Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
geschlossenen Augen die kühle Luft empfing, die dabei half, die erschreckenden Bilder für einen Moment zurückzudrängen.
»Du bist nicht ertrunken, Helene«, murmelte sie in den Wind. »Wenn du doch nur noch reden könntest und berichten, was dir zugestoßen ist.« Vielleicht konnte Julius eine Antwort darauf geben, wenn er seine Untersuchung durchgeführt hatte. Sophie hatte vergessen, ihrer Mutter von seiner Rückkehr zu erzählen. Doch das konnte sie morgen noch nachholen, wenn sie um Erlaubnis bat, ihren Vetter zu besuchen. Denn genau das würde sie tun.
Sophie spürte, wie sich etwas in ihr zu lösen begann und sie etwas freier atmen konnte. Julius aufzusuchen war wichtig, um Licht in das Dunkel zu bringen und ihr eigenes Seelenchaos zu ordnen.
Ein wenig erleichtert schloss sie das Fenster und ließ sich auf das Bett fallen. Und dann musste sie mit ihrer Mutter reden. Wegen Wilhelm.
*
Das Anatomische Theater lag an der Ketzerbach unweit der Elisabethkirche. Jetzt, am späten Nachmittag, war es nach dem Ende der Vorlesung ruhig geworden. Von irgendwoher drang das leise Klappern von Instrumenten, die jemand säuberte und dabei vor sich hin pfiff. Die Gehilfen, die noch hier und dort putzten, hatten Schmitts Leuten anstandslos den Tisch im Theater gewiesen. Wahrscheinlich hätten sie nachgefragt, wenn sie gewusst hätten, wer die Leichenschau verfügt hatte, dachte Julius, während er mit kritischem Blick die Lichtverhältnisse studierte. Das Anatomische Institut galt als Herrschaftsbereich von Professor Michaelis, und der war nicht gut auf Julius zu sprechen, seitdem sie sich bei einem Abendessen im Hause Laumann über ein medizinisches Problem gestritten und er, Julius, der Schüler, am Ende recht behalten hatte. Michaelis war dafür bekannt, ein Gedächtnis zu haben wie der Felsen, auf dem Marburg erbaut worden war.
»Puh, ist es hier kalt!«, beklagte sich Wachtmeister Schmitt, der zurückgeblieben war, nachdem seine Helfer die Leiche abgelegt hatten. Fröstelnd schlug er die Arme um sich. »Kann man hier nicht heizen?«
»Wärme fördert den Verfall«, erläuterte Julius knapp, während er Handschuhe und Kittel aus seiner Tasche klaubte und beides anlegte. Es war in der Tat unangenehm kühl in dem Hörsaal, der sich ringförmig ansteigend um den Seziertisch erhob. Wenigstens dämpfte die Kälte den Gestank von Konservierungsmitteln und Leichenfäulnis, der sonst die anatomischen Theater durchzog. Er sollte sich dennoch beeilen.
Mit geübten Handgriffen legte er die Instrumente bereit und entkleidete die Leiche behutsam, seinen Ekel ignorierend.
Schmitt hielt ein Tuch vor die Nase gedrückt und beäugte ihn misstrauisch. »Bei der Medicinal-Deputation weiß man hoffentlich, was Sie hier tun?«
»Doktor Hirschner ist kaum mehr in der Lage, eine Leichenschau durchzuführen. Es hat schon alles seine Richtigkeit.« Mit einem letzten Ruck zog Julius die beschmutzte Unterhose unter der Hüfte hervor und warf sie zu den anderen Kleidungsstücken in einen Korb. Der Gestank nach Kot war fast unerträglich, sodass er zunächst damit begann, den Körper grob von Exkrementen zu säubern. Durchfall, registrierte er, wässrig, und das schon seit mindestens zwei Tagen, so ausgetrocknet, wie Haut und Lippen waren. Die junge Frau schien vor ihrem Tod bereits stark dehydriert.
Der Wachtmeister schnaufte und zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern. »Ich frage mich, wozu das führen soll«, murrte er. »Warum füllen Sie mir nicht einfach den Totenschein aus?«
»Nicht bevor ich weiß, woran das Mädchen gestorben ist.« Julius stellte die Schale mit dem Schmutzwasser beiseite und begann, die Tote sorgsam auf Leichenflecken zu untersuchen. »Sie können sich in der Zwischenzeit nützlich machen und mir erzählen, wer sie eigentlich war. Ich kenne die Familie nicht.«
»Puh.« Schmitt blies die Backen auf und ließ seinen Schnauzer zittern. »Doktor Karl Friedrich Wittgen ist Regierungsadvokat. Ein freundlicher Mann, höflich und fromm. Vor Gericht soll er unnachgiebig sein, ein Erbsenzähler sondergleichen, habe ich aus Kassel gehört. Der Kurfürst hält große Stücke auf ihn. Soweit ich weiß, war das Mädchen hier seine einzige Tochter.«
»Und was ist mit der Mutter?«
Der Wachtmeister hob die Schultern. »Wittgen ist verheiratet, aber seine Gemahlin ist zu jung, um die Mutter zu sein. Wahrscheinlich die Stiefmutter. Eine hübsche Frau, übrigens.« Er zwinkerte verschwörerisch, wurde aber sofort wieder
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