Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Zeit zugereist. Ein Regierungsadvokat als Angehöriger erforderte jedoch besondere Sorgfalt bei der Untersuchung. »Kannten Sie sie persönlich und können mir sagen, ob sie … « Er stockte, als er sich umdrehte und die junge Frau erblickte, die gesprochen hatte. Er kannte sie, dessen war er sich sicher, auch wenn er im ersten Moment nicht wusste, wo er sie einordnen sollte. Umständlich richtete er sich auf und nickte ihr ein wenig steif zu. »Verzeihen Sie, aber verraten Sie mir Ihren Namen?«
Ein flüchtiges Schmunzeln umspielte ihre Lippen, als amüsierte sie die Frage. »Sophie Amalia Dierlinger, mein Herr. Habe ich mich so verändert, dass du mich nicht mehr erkennst, Doktor Laumann?«
»Sophie … Dierlinger … Natürlich.« Julius versuchte, sich das Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, das er mit dem Namen verband. Aber es erschien ihm unmöglich, in dieser jungen Frau das hagere Mädchen mit dem Pferdegesicht zu sehen, das er als seine Base kannte. Sie war recht hübsch geworden, stellte er fest – trotz des schmalen Gesichts und der modischen Kurzhaarfrisur, die man in Paris ›Tituskopf‹ nannte und die Julius eigentlich abscheulich fand. Offensichtlich wirkte die Pariser Mode weit über ihre Grenzen hinaus, wenn selbst im beschaulichen Marburg die Mädchen Josephine Bonaparte nachahmten.
»Doktor Julius Laumann«, stellte Sophie fest. »Du siehst gut aus, Vetter. Seit wann bist du zurück?«
»Seit zwei Stunden.« Julius räusperte sich und deutete auf die Leiche. »Du kanntest sie also?«
»Wen? Helene, ja.« Sie schlug die Augen nieder, verschränkte die Finger, als müsste sie sich an sich selbst festhalten. »Ganz gut sogar. Sie ist … war eine gute Freundin. Ihre Familie ist erst vor einem Jahr nach Marburg gekommen. Ich mag gar nicht daran denken«, murmelte sie und wandte den Blick ab. Julius fiel auf, dass sie es vermied, die Leiche anzusehen, aber das verwunderte ihn nicht. Wenn es selbst für ihn kein schöner Anblick war, mochte es für jemanden, der derlei nicht alltäglich zu Gesicht bekam, entsetzlich sein.
»Jemand sollte ihre Angehörigen benachrichtigen«, bemerkte Julius und ging wieder neben der Leiche in die Hocke. Nachdenklich betrachtete er sie, drückte mit dem behandschuhten Fingern sacht auf die fahle Haut, die kaum noch nachgab. Seine erste Annahme, sie sei ertrunken und anschließend von einem Fuchs oder einem streunenden Hund angenagt worden, stellte Julius nicht zufrieden. Irgendetwas störte ihn daran.
»Was geschieht jetzt mit ihr?«, fragte Sophie vorsichtig. »Wenn ich mit ihrem Vater spreche, sollte ich wissen, was ich sagen soll.«
»Das ist nicht deine Aufgabe.« Julius blickte zu ihr auf und schüttelte den Kopf. »Wachtmeister Schmitt, kümmern Sie sich um die Angehörigen?«, rief er zu der Gruppe hinüber, während er sich wieder erhob und einen Schritt zurücktrat. »Und sorgen Sie bitte dafür, dass die Leiche zur Untersuchung ins Anatomische Theater gebracht wird.«
Schmitt stapfte heran und kratzte sich am Kinn. »Dafür brauche ich aber eine Anweisung von Doktor Hirschner.«
»Ich bin Doktor Hirschners Adjunkt, und ich sage Ihnen, dass die Leiche ins Anatomische Theater gebracht werden soll«, unterbrach ihn Julius mit jener selbstverständlichen Entschiedenheit, von der er wusste, dass sie auf Amtsleute wirkte. »Wenn Sie für das Mädchen einen Totenschein von mir wollen, schaffen Sie das arme Ding fort, ehe es dunkel wird. Irgendeinen freien Tisch wird es dort wohl geben, den ich nutzen kann.«
Schmitts Schnauzer zuckte, aber er widersprach nicht länger. Die übrigen begannen sich still und leise zu zerstreuen.
Julius verstaute seine Handschuhe wieder in der Tasche, als Sophie neben ihn trat.
»Was ist nun mit Helene?«, fragte sie unsicher. »Sie ist nicht ertrunken, oder?«
»Das wird sich zeigen.« Julius zog den Riemen der Tasche fest und erhob sich mit einem freundlichen, distanzierten Lächeln, wie er es inzwischen bestens beherrschte. »Aber das muss dich nicht kümmern. Den Rest übernimmt die Polizey.«
»Natürlich kümmert es mich.« Sophie schüttelte erstaunt den Kopf. »Helene war eine gute Freundin. Sie geht doch nicht einfach so ins Wasser.«
»Das wird die Untersuchung zeigen«, erwiderte Julius. »Und nun sei so gut und geh nach Hause. Ich habe noch zu tun.«
Sophie folgte der Aufforderung nicht gleich. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ihr Blick glitt zum Fluss, dann wieder zu ihm. »Komm uns besuchen, wenn
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