Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
ernst, als ihn Julius’ kühler Blick traf. Er räusperte sich. »Na ja, jedenfalls ist Wittgen recht wohlhabend. Er hat ein Haus in der Barfüßer Straße gekauft. Vor einem Jahr ist er mit seiner Familie nach Marburg gekommen, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Der Kurfürst scheint ihn jedoch nicht entbehren zu wollen. Wittgen fährt oft nach Kassel, nach allem, was ich so höre.«
»Ein wichtiger und mächtiger Mann also«, nickte Julius und deutete dem Wachtmeister, ihm beim Umdrehen der Leiche behilflich zu sein, was dieser widerwillig tat. Eine Weile arbeitete Julius schweigend, überprüfte Haut und Gewebe auf Druckstellen, schob die schmutzigen Haare beiseite, um keine Verletzung zu übersehen.
»Gibt es irgendwelche besonderen Vorkommnisse in der Familie?«, erkundigte er sich. »Oder Feinde?«
»Feinde?« Schmitt blinzelte. »Nein, warum?«
»Weil das Mädchen umgebracht wurde.«
Schmitt öffnete den Mund, schüttelte dann den Kopf und strich sich über den Schnauzer. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Sehen Sie!« Julius hob den Schädel leicht an und strich die Haare beiseite. »Die Verletzungen hier und in ihrem Gesicht sind Folgen brachialer Gewalteinwirkung. Den Rest haben wilde Tiere erledigt. Kleine Tiere, Krähen, Füchse, streunende Hunde, Ratten. Der böse Wolf ist ausgeschlossen, dafür sind die Fraßspuren viel zu klein.«
»Also hat sie sich am Kopf verletzt und ist dann ins Wasser gefallen und ertrunken?«
»Das könnte man annehmen. Wobei viel dazu gehört, um so zu fallen, dass man sich sowohl am Hinterkopf als auch im Gesicht derart massive Traumata zuzieht. Es ist wahrscheinlicher, dass man auf sie eingeschlagen hat. Ein schwerer Knüppel oder ein Stein könnten die Wunden verursacht haben. Aber das allein hat sie nicht umgebracht.«
»Also doch ertrunken.«
»Nein.« Julius ging zu dem Korb hinüber, in dem er die besudelten Kleidungsstücke verwahrt hatte. »Was riechen Sie?«
Der Wachtmeister zuckte zurück. »Wohl das Gleiche wie Sie.« Er rümpfte angeekelt die Nase. »Das ist alles vollgeschissen.«
»In der Tat.« Julius lächelte knapp und stellte den Korb wieder weg. »Das Mädchen litt an Durchfall. An massivem Durchfall. Eine Erkrankung, mit der niemand – und ich betone: niemand! – freiwillig das Haus verlässt.« Julius’ Blick glitt nachdenklich über den Leichnam, der bleich und nackt ungemein verletzlich wirkte, wenn man die grauenhaften Verletzungen nicht beachtete. »Ich brauche eine Obduktion, um Klarheit zu haben. Helfen Sie mir noch einmal sie zu drehen, ich muss an Bauch und Brustkorb herankommen.«
»Obduktion? Oh nein.« Schmitt schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht ohne Hilles Anordnung. Sonst kommen wir in Teufels Küche!«
»Dann reden Sie mit Hille«, sagte Julius ungeduldig. »Hier steckt wahrscheinlich ein Mord dahinter, und ich will Gewissheit.«
»Sie vermuten einen Mord, weil sich das Mädchen vollgeschissen hat?« Der Wachtmeister verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich sehe da keine Verbindung.«
Julius seufzte. »Ich gehe davon aus, dass man ihr Gift verabreicht hat. Jemand trachtete ihr nach dem Leben. Wahrscheinlich hat man sie erst versucht zu vergiften, und als das nicht erfolgreich war, hat man sie erschlagen und am Fluss liegen gelassen. Ich muss die Leiche öffnen! Besorgen Sie mir die Genehmigung.«
»Besorgen Sie sich die doch selbst! Ich halte mich schon viel zu lange damit auf.«
»Es geht hier nicht um gestohlenes Federvieh oder irgendeine andere Bagatelle. Es geht um Mord! Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass hier jeder ungestraft morden darf, nur weil Sie lieber Hühnerdiebe jagen?«
»Das habe ich überhört.«
»Nein, haben Sie nicht.« Julius richtete sich auf, ging ein paar Schritte durch den Raum, ehe er sich abrupt umdrehte. »Fürchten Sie sich davor, den Schultheiß zu fragen?«
»Nein.« Schmitt schnaubte empört. »Aber Sie überschreiten fortwährend Ihre Amtsbefugnis. Warten Sie ab, bis sich jemand darum kümmert, der dafür zuständig ist.«
»Herrgott, kommen Sie mir nicht mit Zuständigkeiten!« Julius hieb mit der Faust auf den Seziertisch. »Das Mädchen wurde ermordet, und ich erwarte, dass Sie mir helfen. Es ist Ihre verdammte Pflicht!«
Einen Moment starrten sie einander herausfordernd an, dann schüttelte Schmitt ärgerlich den Kopf. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich kümmere mich jetzt um meinen Hühnerdieb und spreche anschließend mit Hille. Ich muss ihm ohnehin
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