Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
er den neugierigen Jungen vor die Tür gesetzt hatte, warf er den Ratten den Apfelrest aus Helenes Zimmer in den Käfig. Wenn seine Theorie stimmte, war der Apfel vergiftet, und dann würde das Gift an den Ratten seine Wirkung zeigen. Allerdings mussten die Viecher dazu erst einmal fressen, und den Gefallen taten sie ihm nicht.
Ein Poltern an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Mit einem ärgerlichen Zischen drehte sich Julius herum und machte eine wedelnde Handbewegung, um Berte wieder hinauszuscheuchen, die mit einem Stapel Tücher beladen in der Tür erschienen war. Doch die dicke Magd regte sich nicht. Ihr Blick glitt an ihm vorbei und fing sich an dem Käfig, wo die Ratten jetzt aufgescheucht fiepend versuchten, sich am Gitter hochzuziehen. Ihr teigiges Gesicht zeigte Fassungslosigkeit.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Was ist das ?«
»Ratten«, knurrte Julius und warf seinem Experiment einen bedauernden Blick zu. Bis sich die scheuen Tiere wieder soweit beruhigt hatten, dass sie sich dem Apfel näherten, mochten einige weitere Stunden vergehen.
»Das sehe ich selbst«, blaffte Berte, die sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte. Ihre Wangen liefen rot an. »Was denken Sie sich dabei, Ungeziefer ins Haus zu holen?«
»Ratten sind gesellige Zeitgenossen. Geselliger als die meisten Menschen.« Julius nahm ihr die Tücher ab und legte sie beiseite. Sein Mundwinkel zuckte. »Sei so gut und geh. Koch dem Hirschner einen Tee oder was auch immer. Ich habe zu arbeiten.«
Berte schnappte nach Luft, und für einen Moment schien es, als wollte ihr Schädel vor Empörung platzen.
»Das sage ich dem Doktor!«, stieß sie schließlich hervor. »Ich habe ihm gleich gesagt, das ist nicht gut, Sie hier wohnen zu lassen! Sie sind …
»Halt den Mund und geh jetzt!« Julius hatte nicht laut gesprochen, aber es war jener Befehlston, der ihm schon in den Hospitälern von Paris Respekt eingebracht hatte. Er drehte sich wieder zum Käfig und legte die Hand auf die Gitterstäbe. Sofort stoben die Ratten beiseite, drängten sich ängstlich auf die andere Seite des Käfigs. Viele weitere Stunden, korrigierte er sich in Gedanken.
Hinter sich hörte er Berte einatmen, einmal, ein zweites Mal. »Übrigens kam vorhin ein Bursche für Sie.«
»Was wollte er?« Julius drehte überrascht den Kopf.
»Hat das hier gebracht.« Berte pfriemelte einen zerknitterten Brief aus ihrem Ärmel und warf ihn Julius schnaufend zu. »Von Ihrem Vater, glaube ich.«
»Du hast hineingesehen«, stellte Julius fest, zu perplex über die Dreistigkeit der Magd, um sie zurecht zu weisen.
Berte hob die schweren Schultern. »Der Doktor hat’s mir vorgelesen. Musste ja wissen, ob es was Wichtiges ist. Ich koch dann heut nicht, wenn Sie zum Essen sind. Der Doktor isst eh nichts.«
»Faule Gans«, murmelte Julius, während er die Tür hinter ihr schloss und abwartete, bis die Schritte auf der Treppe verklungen waren. Dann erst schlug er das Papier auseinander und überflog die wenigen Zeilen, in denen sein Vater ihm mitteilte, dass er ihn am Abend erwartete. Es war ein nüchterner Brief, kein herzliches Willkommen, kein Vorwurf, nur eine Aufforderung, mehr Befehl als Einladung. Zumindest in dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert.
Julius’ Blick glitt zum Käfig, von wo aus ihn zwei paar unruhige Knopfaugen beobachteten. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er einen Beweis in der Hand gehabt hätte, ehe er seinem Vater gegenübertrat. Doch nun musste es so gehen. Er hatte schon schlimmere Gewitter überlebt.
Die Schnurrhärchen der Ratten zitterten.
Es war längst dunkel geworden, als Julius sich schließlich auf den Weg zum Haus seiner Familie machte. Nun, da es sich nicht mehr vermeiden ließ, fühlte er wieder jenes unwohle Ziehen in seinem Magen, das ihm früher ein stetiger Begleiter gewesen war. Das Verhältnis zu seinem Vater als schlecht zu bezeichnen, wäre verfehlt, denn es waren nicht unbedingt laute Wortgefechte, die ihr Miteinander prägten. Sein Vater konnte mit niemandem streiten. Für den Stadtrat Laumann gab es nur eine Meinung, und das war seine eigene. Er polterte und brüllte nicht, das wäre etwas gewesen, womit Julius hätte leben können, um sich insgeheim seiner Überlegenheit zu erfreuen, den Vater so weit getrieben zu haben, dass er die Contenance verlor. Doch die herablassende Ignoranz, mit der sein Vater seine Umwelt als um ihn kreisende Planeten verstand, jeden Widerspruch im Keim erstickte und mit einer
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