Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
ganzen Tag schon fort warst.«
Sophie gluckste erheitert und schob ihre Hand kurz entschlossen über Wilhelms Finger, um sie sacht zu drücken. »Was sollte mir am helllichten Tag mitten in der Stadt zustoßen?«
»Vielleicht hat deine Freundin Helene das gleiche gedacht«, erwiderte Wilhelm ernst und wandte sich ihr zu, ohne seine Hand unter ihrer zu lösen. »Die ganze Stadt scheint übrigens davon zu sprechen. Im Wirtshaus war man gestern Abend kurz davor, die Balken aus der Wand zu reißen und auf Wolfsjagd zu gehen. Irgendein Tropf hat verbreitet, ein Wolf habe das Mädchen gefressen. Heute Morgen gab es einen Auflauf vor dem Rathaus.« Wilhelm hob einen Mundwinkel. »Man sollte meinen, dass eine Stadt wie diese voller Menschen ist, die gelernt haben, auf ihren Verstand zu vertrauen.«
»Das sollte man«, nickte Sophie zustimmend und spreizte die Finger, um sie zwischen seine zu schieben. »Übrigens vermutet Julius, dass Helene vergiftet wurde. Es fügt sich plötzlich alles zusammen. Helene und ihre Stiefmutter konnten sich noch nie leiden, und vielleicht hat Helene ihr irgendwie gedroht, dass Katharina sie getötet hat, ehe sie ihr schaden konnte.«
»Du meinst also, dass diese Katharina die Mörderin ist?«
»Es scheint mir einleuchtend.« Sophie hob die Schultern. »Sie hätte einen Grund, sie hat sicher Wege, an Gift zu kommen. Und sie ist eine Frau.«
»Und Frauen sind per se zum Giftmord geneigt?«, fragte Wilhelm amüsiert. »Was hält dein Vetter von deinem Verdacht?«
»Nichts.« Sophie seufzte. »Er will sich erst vergewissern, dass er recht hat und es wirklich Gift war. Bis dahin hat man Helene vermutlich längst bestattet, und Katharina kommt ungeschoren davon.«
»Vielleicht sprichst du einmal mit ihr.«
»Warum?« Sophie blinzelte fragend. »Was sollte das bringen?«
»Vielleicht verrät sie sich, wenn sie sich sicher fühlt. Oder macht Fehler.« Wilhelm hob die Schultern. »Ich wüsste nicht, was man sonst tun könnte.«
Noch immer strichen ihre Finger zwischen Wilhelms, sie schwieg einen Moment nachdenklich. »Ich sollte langsam gehen«, sagte sie bedauernd. »Mutter wird nach mir suchen lassen, wenn sie nach Hause kommt.«
Sophie löste ihre Hand und ließ sich von dem Mäuerchen fallen, strich ihren Rock glatt. Ihr war mit einem Mal kühl im Abendwind. »Onkel Laumann meint, ich solle mich nicht mit dahergelaufenen Studenten treffen, und Mutter gibt ihm in allem nach.« Sie lächelte etwas gezwungen. »Wenn du mir also einen schönen Abend wünschen willst, wäre das die Gelegenheit. Ich weiß nicht, ob Onkel Hugo dich einlassen darf, wenn du zu uns kommst.«
»Ich lasse es darauf ankommen«, beschloss Wilhelm und erhob sich ebenfalls. Der erdige Geruch seines Rocks drang Sophie in die Nase, als er vor ihr stand, unschlüssig die Hände an den Rocktaschen abwischend. »Ich höre mich um wegen Helene«, versprach er. »Komm gut nach Hause.«
Sophie nickte und blickte stumm zu ihm hoch. Warum küsste er sie nicht? Jetzt war die Gelegenheit, gleich war sie vorüber, und niemand wusste, wann sie zurückkehrte. Sie schloss die Augen, als er sich vorbeugte, doch zu ihrer Enttäuschung spürte sie nur seine Hand, die über ihre Wange strich.
»Pass auf dich auf«, hörte sie ihn murmeln. Sie nickte leicht, die Lippen zusammengepresst und versucht, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
»Bis morgen«, brachte sie irgendwie hervor und fuhr herum, ehe er etwas erwidern konnte. Mit raschen Schritten eilte sie den Hang hinab und blickte sich erst um, als sie die Stufen zum Forsthof erreicht hatte.
Wilhelm stand noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, und sah ihr nach.
*
Die Barthärchen zitterten, als die Ratte prüfend die Nase hob. Zögerlich, als spüre sie die Gefahr, machte sie einen Schritt auf den Apfel zu, hielt dann aber wieder inne.
»Nun mach schon«, flüsterte Julius. Wie gebannt saß er vor dem Käfig, während er mit den Augen jede Bewegung der beiden Ratten verfolgte, regungslos, um sie nicht zu verschrecken. Es war überraschend einfach gewesen, Ratten zu bekommen – zwei Münzen hatten ausgereicht, und der sommersprossige Sohn des Schuhmachers hatte keine Stunde später einen Sack mit zwei zappelnden Ratten bei ihm abgegeben. Sogar einen Vogelkäfig hatte er seiner Mutter abgeschwatzt, der zwar viel zu hoch für die beiden Nager war, aber seinen Zweck erfüllte. Julius hatte ohnehin nicht vor, sie lange gefangen zu halten.
Nachdem
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