Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Handeln.«
Julius atmete tief durch. »Es tut mir leid, dass meine Arbeit Missmut erregt. Ich wusste nicht, dass es zu den Regeln zählt, die Augen zu verschließen, wenn offensichtlich Fehler gemacht werden.«
»Es ist nicht deine Sache zu beurteilen, ob dieses Mädchen umgebracht wurde oder nicht.« Die Stimme des Vaters war immer noch ruhig, aber es schwang ein gefährlicher Unterton darin mit. »Du hast es fertig gebracht, an einem Tag Professor Michaelis, Oberschultheiß Hille und Doktor Fichtner zu brüskieren.«
»Das wäre nicht nötig gewesen, wenn sie einmal genauer hingeschaut hätten. Dann hätten sie erkannt, dass ich recht habe.« Julius zwang sich, die Hände ruhig neben den unangerührten Nachtisch zu legen. »Dieses Mädchen ist nicht ertrunken, sondern wurde vergiftet.«
»Das ist lächerlich, und das weißt du«, wehrte sein Vater brüsk ab. »Lass die Sache ruhen und tu dein Bestes, dann wird man den Zwischenfall bald vergessen haben. Und hör auf, die Familie Wittgen zu belästigen.«
»Wittgen hat sich beschwert«, mischte sich Hermann in den Disput ein. Er warf Julius einen entschuldigenden Blick zu. »Er war vorhin hier und bat um Ruhe für sich und seine Familie.«
Der Vater nickte. »Der Mann hat genug erlitten, und jetzt auch noch die Tochter. Es ist unredlich, sich in anderer Leute Unglück zu suhlen, um sich selbst zu profilieren.«
»Ich suche nichts als die Wahrheit. Aber auf Wahrheit scheint man hier wenig zu geben.« Julius erhob sich, stemmte beide Fäuste auf die Tischplatte. Die Wut drückte ihm die Luft ab, aber es gelang ihm, die Stimme ruhig zu halten. »Hat man einen Grund, die Angelegenheit totzuschweigen? Oder nehmen Sie gar jemanden in Schutz, Vater?«
»Ich nehme niemanden in Schutz. Unterlass diese Unterstellungen!« Sein Vater erhob sich ebenfalls, langsam und gemessen. Seine Miene blieb unbewegt, lediglich die Augenwinkel zuckten hinter dem Zwinker und verrieten seinen Ärger. »Ich bin verantwortlich für diese Stadt und seine Bewohner, und ich lasse nicht zu, dass du mit deinen Mordgeschichten die Unruhe noch mehr anheizt. Überall in der Stadt redet man von nichts anderem als von diesem Wolf. Kaum ein Tag, an dem keine neue Sichtung bekannt wird. Heute früh standen sie vor dem Rathaus und forderten den Kopf der Bestie, weil sie glauben, dass er die junge Wittgen geholt habe. Marburg war eine ruhige, friedliche Stadt, ehe dieser Wolfswahn aufkam, und ich werde nicht zulassen, dass du mit deinen Giftgeschichten die Leute noch mehr verrückt machst!«
»Ich habe nicht vor, ihnen Geschichten aufzutischen.«
»Dann finde dich damit ab, dass hier nicht alles nach deinem Willen läuft. Und nun iss.« Ohne Julius eines weiteren Blickes zu würdigen, setzte er sich wieder und nahm seinen Löffel auf.
Julius presste die Lippen aufeinander, die Hände zu Fäusten geballt. Einen Moment lang war er versucht, seinem Vater die eigene Kurzsichtigkeit auf den Kopf zuzusagen, aber er wusste, dass er damit nichts erreichen würde.
»Ich wünsche noch einen schönen Abend.« Er richtete sich auf, atmete kurz durch, um die Schultern zurückzuziehen. »Wenn Sie mich suchen, finden Sie mich bei Doktor Hirschner.« Ein knappes Nicken in Richtung Hermann und Louise, ein weiteres zu seiner Mutter, die den Kopf über den Nachtisch gesenkt hatte und sich nicht anmerken ließ, was sie dachte. »Vielen Dank für die Einladung.«
Er drehte sich auf dem Absatz herum und verließ das Zimmer, klaubte seinen Mantel vom Haken und eilte die Stufen hinab zur Eingangstür.
»Julius, warte!«
Julius blieb stehen, die Hand schon an der Tür, bis Hermann ihn eingeholt hatte.
»Was sollte das?«, baute sich der Bruder vor ihm auf, die Hände in die Hüfte gestemmt. »Bist du übergeschnappt?«
»Dann wäre ich geblieben.« Julius schlug den Mantel über die Schultern. »Was ist noch?«
»Verdammt, Julius, ist dir nicht klar, was Vater alles für dich getan hat? Wie kannst du ihn so brüskieren?«
»Es gibt Dinge, da irrt Vater. Und ich sitze nicht tatenlos herum, nur weil ihm die Ruhe in der Stadt wichtiger ist als ein Mord. Da ist eine junge Frau umgekommen, Hermann, und die halbe Stadt glaubt an den bösen Wolf, das dunkle Ungetüm, das sie geholt habe, und die, die für Aufklärung sorgen könnten, glauben lieber an einen Unfall. Dabei genügt ein Blick, um die Wahrheit zu erkennen.« Julius schüttelte den Kopf und seufzte. »Geh zurück zu deiner Louise und macht euch noch einen
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