Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Nase hoch und drückte das Gesicht noch tiefer in das Kissen. Wenn sie doch wenigstens mit Wilhelm reden könnte. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als es zaghaft an die Tür pochte. Zunächst versuchte Sophie es noch zu ignorieren, doch es wiederholte sich beharrlich. Mühsam kämpfte sie sich hoch und fuhr mit dem Ärmel flüchtig über die Augen.
»Lasst mich in Ruhe!«, blaffte sie mit wankender Stimme. »Ich will nichts.«
Statt einer Antwort wurde die Tür vorsichtig aufgeschoben. Sophie hob überrascht die Brauen, als sie die Großmutter erkannte. Sorgsam schloss diese die Tür hinter sich und drehte sich zu Sophie um. Ein mildes Lächeln lag auf dem zahnlosen Gesicht. »Du hast geweint, Kindchen.«
Sophie verzog die Lippen, aber es kam nur eine schiefe Grimasse dabei heraus. Die Wut, die für einen Moment gelodert hatte wie ein trockenes Holzscheit, dem man Glut unterlegt, war ebenso schnell wieder verloschen, und jetzt, da sie mit den letzten Tränen im Kopfkissen versickert war, fühlte sich Sophie nur noch leer. »Mutter ist ungerecht und falsch«, murmelte sie, mehr hilflos als zornig. »Sie ist … ich weiß nicht einmal, wie ich es sagen soll. Sie will plötzlich, dass ich werde wie all diese hohlen Gänse, die sich aufputzen und nur darauf warten, dass sie geheiratet werden. Vermutlich sehnt sie ungeduldig herbei, dass sie mich unter die Haube bekommt, wie Lisbeth, und dann ist sie uns los und Onkel Laumann ist zufrieden. Wahrscheinlich soll ich deshalb hübsch anzusehen sein bei der Hochzeit. Vielleicht haben sie schon jemanden im Auge, einen wohlhabenden Rechtsgelehrten, der sich bestens aufs Stiefellecken versteht und gute Aussichten hat, einmal Richter oder Regierungsrat zu sein.« Sie stieß schnaubend Luft durch die Nase aus. »Vater hätte das nie zugelassen.«
»Jedes Mädchen muss einmal heiraten.« Die Großmutter hob die Mundwinkel, sodass sich das Gespinst feiner Furchen und Runzeln um ihren Mund herum kurz vertiefte. »Das ist der Lauf der Welt, wie dein Vater zu sagen pflegte.«
»Schöner Lauf der Welt«, brummelte Sophie und rückte ein Stück zur Seite, damit die Großmutter neben ihr auf dem Bett Platz nehmen konnte. »Ich bin aber keine Zuchtstute, die man ausstaffiert und meistbietend auf dem Markt feilbietet. Oder einem eitlen Laffen zuführt, der mehr Geld als Geist hat.«
Die Großmutter schüttelte seufzend den Kopf. »Du denkst ungerecht.«
»Dann sollte Mutter aufhören, mich wie eine folgsame Zuchtstute zu behandeln. Bei allem, was ich tue, hat sie Angst, Onkel Laumann könnte daran Anstoß nehmen!«
»Tust du denn Dinge, an denen man Anstoß nehmen sollte?« Die Augen der Großmutter ruhten ungewohnt klar auf Sophies Gesicht.
Sophie zögerte, blickte auf ihre Hände, die sie im Rock zwischen den Oberschenkeln vergraben hatte, als wollte sie sich selbst festhalten. »Nichts, was man schlechtheißen könnte«, sagte sie schließlich zögerlich. »Ich versuche herauszufinden, was hinter Helene Wittgens Tod steckt. Und ich treffe mich gelegentlich mit einem Studenten, Wilhelm Grimm … Es ist alles ganz harmlos«, beteuerte sie schnell, als die Großmutter fragend eine Braue wölbte. »Wir … reden. Wilhelm ist sehr klug und belesen und außerdem sehr freundlich und … « Gut aussehend wollte sie hinzufügen, biss sich aber im letzten Moment auf die Lippe, weil es mehr über ihre Gefühle für Wilhelm verraten hätte, als sie der Großmutter gegenüber eingestehen wollte. »Ich mag ihn einfach«, murmelte sie und zog die Schultern hoch. »Ich glaube, es liegt alles nur daran, dass Onkel Laumann nicht mag, wenn ich nach Helenes Tod frage.«
»Warum denn das?«
»Wenn ich das wüsste.« Sophie seufzte, warf der Großmutter aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu. »Ich glaube, er will keine Aufregung und keinen Ärger mit Doktor Wittgen … Helenes Vater«, fügte sie erklärend hinzu, als die Großmutter schon ansetzte nachzufragen. »Der ist ganz gram vor Kummer und will nichts mehr davon hören. Und er hat mächtige Freunde in Kassel.«
Großmutters Brummen signalisierte Zustimmung. »Und weißt du schon, was mit dem Mädchen passiert ist?«
»Ich habe einen Verdacht, aber ich kann ihn nicht beweisen. Ich denke, es war Helenes Stiefmutter. Die beiden mochten sich nicht.«
»Stiefmütter meinen es nie gut mit den Kindern anderer«, unterbrach sie die Großmutter milde. »Das war immer schon
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