Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Gegenteil des ernsten und gewissenhaften Savigny zu sein schien, hatten sich die beiden bislang eine Wohnung geteilt und waren eng miteinander befreundet – eine Freundschaft, die auch Savignys Schüler einschloss.
»Wohin treiben dich deine Gedanken?«, erkundigte er sich und schlug ein Bein über das andere.
Wilhelm schnaufte und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkend. »Es klingt vermutlich albern, aber ich denke die ganze Zeit über diese Geschichte mit dem Wolf nach«, gab er zu. »Man möchte meinen, die Menschen hätten genug Verstand im Kopf, um zu erkennen, dass dieses Mädchen nicht vom Wolf gerissen wurde. Und trotzdem erzählen sie es, sooft man ihnen zuhört.«
»Wie soll sie denn umgekommen sein?«
»Ertrunken.«
»Nun, vielleicht glauben sie es einfach nicht.«
»Aber warum sollten sie … «
»Etwas glauben kann man nicht allein hiermit«, unterbrach ihn Brentano und tippte mit dem Zeigefinger auf Wilhelms Stirn, »sondern ebenso hiermit.« Sein Finger wanderte zu Wilhelms Brust. »Manche Dinge hört man, aber man weiß eigentlich, dass sie nicht wahr sind. Ist es dir noch nie so ergangen?«
»Nein, oder – doch. Selten.«
Ein Schmunzeln schlich sich in Brentanos Mundwinkel. »Ich habe vor ein paar Tagen erst eine solche Geschichte gehört. Von einer Hexe, die in der Nähe des Frauenbergs leben soll. Angeblich frisst sie Kinder. Vermutlich ist die Frau ganz harmlos, aber vielleicht ist tatsächlich etwas an ihr, was einem nicht geheuer ist. Mir graust zumindest vor ihr, wenn ich die Leute reden höre.«
»Von der Hexe habe ich auch schon gehört«, murmelte Wilhelm. Er starrte auf sein leeres Blatt. »Ich mag nicht glauben, dass es Hexen gibt. Das ist ein Aberglaube aus einer Zeit, die viel Unheil gebracht hat.«
»Und seitdem wollen uns die Aufklärer erzählen, dass alles auf der Welt mit Vernunft zu erfassen ist. Aber das ist ein Trugschluss. Es gibt viele Dinge, die man allein mit der Vernunft nicht erklären kann, die nur das Gefühl erfassen kann. Unerklärliches. Unheimliches.« Brentano riss die Augen auf, lachte. »Es gibt unendlich viele Geschichten im Volk, die vom ›Bösen Wolf‹ erzählen. Vielleicht erinnern sich die Leute an diese Geschichten, weil sie selbst keine Erklärung finden oder ihnen die Erklärungen, die man ihnen vorsetzt, zu dünn sind. Und schon stecken sie die Köpfe zusammen und tuscheln. Und der Gelehrte in seiner Vernunft rauft sich die Haare über so viel Un vernunft.«
»Dann sollte man das Volk belehren, dass es aufhört, solchen Schwachsinn zu verbreiten!«
Brentano schüttelte den Kopf. »Damit nähmest du dem Volk seine Geschichten und Lieder. Und letztendlich würdest du formen wollen, was nicht ist, oder?«
Wilhelm nickte zögernd und ließ die Hände sinken. »Das stimmt.«
»Es stimmt, Grimm!« Brentano versetzte ihm einen spielerischen Knuff gegen die Schulter. »Das wirklich Wahre findest du beim einfachen Volk, das sich nicht verstellt, in seinen Liedern, Geschichten und Märchen. Und weißt du sicher, was sich dort draußen in den Wäldern herumtreibt? Ich für meinen Teil nehme die Ängste lieber ernst, als mit all meiner Vernunft am Ende mit aufgerissener Kehle am Wegesrand zu enden. Aber ich halte dich auf, dabei wollte ich nur ein Buch holen. Hier«, er drückte die Fingerspitze auf das Papier, »sei fleißig und arbeite. Sonst verrat ich’s dem Savigny.«
Wilhelm nickte leicht und wandte den Blick zum Fenster. Als sich die Tür hinter Brentano schloss, flogen seine Gedanken erneut davon.
*
»Sophie!«
Ihre Finger berührten schon das kühle Holz der Tür, als sie erschrocken innehielt und herumfuhr, den Kopf unwillkürlich zwischen die Schultern gezogen. Schuldbewusst, fiel ihr auf. Eilig reckte sie ihr Kinn. Sie hatte nicht Bescheid gegeben, als sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, aber das schien ihr auch gar nicht nötig, schließlich kannte ihre Mutter die Wittgens gut. Dennoch stellten sich ihre Nackenhaare auf, als ihr Blick auf Onkel Hugos düsteres Gesicht fiel.
»Wo warst du?«, fragte er ohne Umschweife und stellte die schwere Axt neben sich ab, mit der er im Hof Holz gespalten hatte. Seine Haare waren trotz der Kälte im Ansatz feucht von Schweiß. »Du kriegst Ärger. Deine Mutter wollte, dass ich dich suche.«
»Warum das?« Sophie schaute verwundert. »Habe ich etwas … Der Schneider!« Verflucht, sie hatte ganz vergessen, dass ihre Mutter für heute den Schneidermeister bestellt
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