Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
bringen.«
»Ihre Worte oder seine?«
»Seine natürlich.« Lotte stieß verächtlich Luft durch die Nase aus. »Aber mir sind die Hände gebunden. Anders als der Mereau ist es mir nicht vergönnt, mein Leben durch Gedichte und Romane zu bestreiten.«
»Und deshalb sperren Sie Ihre Seele und die Ihrer Töchter ein.«
»Unwillig, aber das akzeptiert Sophie nicht.«
»Können Sie ihr es verdenken?«
Lotte schwieg einen Moment, ihr Blick glitt durch Savigny hindurch in eine Ferne, die der junge Mann nicht erfassen konnte. Wäre ihr Conrad nicht so plötzlich verstorben, er hätte sie auf dem Totenbett schwören lassen, ihre Töchter in seinem Sinne zu erziehen. Sie hatte sich bislang eingeredet, froh sein zu müssen, diesen Schwur nie geleistet zu haben, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie ihn in Gedanken Hunderte Male gesprochen – und ebenso oft gebrochen.
Sie atmete tief durch und streckte die Hand nach dem Bündel mit den Gedichten aus. Einen Moment lang wog sie sie in der Hand, dann reichte sie sie an Savigny zurück. »Nehmen Sie sie wieder mit«, bat sie leise. »Ich fürchte, ich habe mich an einen Traum geklammert und dabei die Vernunft verloren.«
Die Augen des jungen Gelehrten blickten sie ruhig an, er machte keine Anstalten, das Bündel entgegenzunehmen. »Sie wissen, dass ich eher der Vernunft denn Träumereien und Sehnsüchten verbunden bin«, sagte er schließlich, als ihre Hand unter dem Gewicht des Bündels schon zu zittern begann. »Letztere sind Brentanos Welt, die Sie durchaus schätzen, wie ich weiß.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Godwi , der immer noch auf dem Tischchen lag, und erhob sich dann. Mit einer flüchtigen Handbewegung strich er den Rock glatt. »Ich werde die Gedichte nicht mitnehmen. Was Sie damit tun, liegt bei Ihnen, aber tun Sie nichts, weil Sie meinen, Ihr Bruder sähe es gerne. Damit tun Sie Ihren Töchtern und sich selbst Unrecht.«
»Größeres Unrecht als die Armut?« Lotte ließ die Hand sinken und blickte zu ihm hoch. »Bin ich verantwortungsvoll oder einfach nur zu feige?«, fragte sie rau.
»Zweifelnd.« Savigny lächelte schwach. »Sie sind zweifelnd. Das waren Sie nicht, solange Ihr Gatte noch am Leben war. Zweifel martern Seele und Verstand und lähmen das Urteilsvermögen.«
»Ich weiß«, murmelte Lotte und nickte. »Vielen Dank, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte sie mit festerer Stimme und entsann sich der Höflichkeit, zum Abschied aufzustehen. »Mein Haus steht Ihnen immer offen. Gute Nacht, Friedrich.«
»Gute Nacht, Lotte.«
Nachdem Savigny gegangen war, starrte Lotte noch eine ganze Weile auf die geschlossene Tür, ehe sie sich schließlich auf das Sofa niederließ und mit einem leisen Seufzer die Augen schloss. Sie fühlte sich entsetzlich müde.
*
Emilie atmete tief und langsam, spürte dem Einströmen der Luft nach, die beim Auslassen leise Zischlaute zwischen ihren Zähnen hervorrief. So hatten es ihr die Hebammen damals erklärt, als sie mit ihrem kleinen Sohn niedergekommen war, eine lange Geburt, zwei Tage fast, und am Ende war es ein blutiger Klumpen verwachsenes Fleisch, das man ihr vorenthalten hätte, wenn sie es nicht der Hebamme aus dem Arm gerissen hätte. Der tote Knabe war das einzige Kind, das sie geboren hatte, und doch waren die Schmerzen wieder da, wüteten und rissen in ihrem Leib, dass sie meinte, es keinen Augenblick länger ertragen zu können.
Einatmen, ausatmen.
Ihren Gemahl hatte sie ein halbes Jahr nach dem Kind verloren, ein Unfall, die Postkutsche hatte ihn im Dunkeln übersehen. Zwei Wochen hatte er um sein Leben gerungen und den Kampf am Ende doch verloren. Ob er damals auch solche Schmerzen erlitten hatte?
Einatmen … Emilie keuchte auf, als sich ein glühender Stift in ihren Unterleib bohrte und sie sich unwillkürlich zusammenkrümmte. Ein Wimmern kroch über ihre Lippen, zitternd tastete ihre Hand nach Halt.
Was in Gottes Namen geschah mit ihr? Es hatte nach dem Abendessen begonnen, als sie ihrem Mädchen freigegeben und sich selbst zurückgezogen hatte. Sie lebte allein seit dem Tod ihres Gatten, und bislang hatte sie die Ruhe und Freiheit genossen. Doch jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass jemand im Haus wäre, der ihr einen lindernden Tee machte oder sie auch nur tröstete.
Wieder schoss der Schmerz durch ihren Leib, hieb mit garstigen Krallen in ihre Eingeweide, als wollte es sie zerreißen. Hatte sie etwas Falsches gegessen? Das konnte nicht sein, sie achtete penibel
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