Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
hatte, damit er die letzten Änderungen an dem Kleid für die Hochzeit von Clemens Brentano vornahm. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach zu gehen und erst am Abend zurückzukommen, wenn Mutter bei Brentano und seiner zukünftigen Frau eingeladen war – in der Hoffnung, dass sich der Ärger am nächsten Tag gelegt haben würde. Onkel Hugo ließ ihr jedoch keine Zeit, sondern packte sie ungewöhnlich hart am Arm.
»Geh hinein«, befahl er. »Du musst dich entschuldigen.«
Wenn sie mit einer Entschuldigung davon kam, hatte sie es vermutlich noch gut getroffen, dachte Sophie stumm. In den letzten Wochen war kaum ein Tag vergangen, an dem sie keinen Streit mit ihrer Mutter geführt hatte – um ihre Kleidung, ihre Freunde oder immer wieder um ihre Frisur, die sie sich ohne Zustimmung der Mutter hatte stehen lassen. Doch heute ging es um mehr als um zu kurze Haare. Mit einem bangen Gefühl im Magen folgte sie Hugo ins Haus.
Sie fand ihre Mutter in der Bibliothek. Lotte saß am Fenster, und obwohl das Tageslicht noch ausreichend war, hatte sie eine Lampe aufgestellt. Sie las in einem Buch, das Sophie erst, als sie es sinken ließ, als Bretanos Godwi erkannte.
Sophie schluckte, ehe sie einen zaghaften Schritt in den Raum hinein machte. »Mutter, ich war … «
»Erspar uns deine Erklärungen«, unterbrach sie Lottes Stimme kühl. »Meister Liebhans war hier.«
»Ich weiß«, murmelte Sophie und ließ den Kopf hängen, in der Hoffnung, die schuldbewusste Geste könnte die Mutter gnädiger stimmen. »Verzeihen Sie. Ich habe es vergessen.«
»Vergessen!« Lotte schnaubte. Sie legte ein Bändchen als Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Selbstvergessen sollte man wohl sagen! Was denkst du dir eigentlich? Kannst du dir vorstellen, wie hochnotpeinlich es ist, den Meister über Stunden zu vertrösten, während Hugo die halbe Stadt nach dir absucht?«
Sophies Kopf ruckte hoch. »Ich habe nie darum gebeten, auf diese Hochzeit eingeladen zu werden!«
»Du solltest dich glücklich schätzen, du undankbares Ding!«, fauchte Lotte. Sie erhob sich langsam, der Godwi blieb auf dem Sofa liegen. »Clemens Brentano war ein Freund deines Vaters. Schon allein ihm zuliebe solltest du gut überlegen, was du sagst! Dein Vater wäre zutiefst enttäuscht, wenn er sähe, dass du dich herumtreibst wie die Tochter eines Schankwirts!«
»Vater würde mich verstehen.« Sophie spürte plötzlich einen Knoten in ihrem Hals, der bei dem Gedanken an ihren Vater langsam anschwoll, ihr Tränen der Wut und Enttäuschung in die Augen trieb. »Vater hat die Wahrheit geliebt! Viel mehr als irgendwelche … Gesellschaften und Bekanntschaften, die man pflegt, weil es gut klingt, mit einem von Savigny oder irgendwelchen Dichtern befreundet zu sein!«
»Hüte deine Zunge!« Lotte hob den Arm, ließ ihn drohend in den Luft stehen. »Mein Bruder hat wohl recht, und ich bin viel zu weichherzig mit dir, wenn ich es zulasse, dass du dich wie eine Französin zurecht machst und wie ein Dienstmädchen den Studentenröcken nachläufst!«
»Ich laufe niemandem nach!« Sophie hatte die Hände im Stoff ihres Rocks zu Fäusten geballt. Ihre Unterlippe zitterte vor Wut, und ihre Wangen brannten. »Vater hätte mich verstanden. Er hätte mich unterstützt, anstatt ständig nach Onkel Laumanns Pfeife zu tanzen, wie Sie es ja bereits bestens beherrschen!«
»Das reicht!« Lottes Stimme peitschte durch den Raum. »Geh in deine Kammer, und da bleibst du, bis du zur Vernunft gekommen bist!«
Sophie starrte sie an, ihre Augen brannten vor Zorn und bitterer Enttäuschung. Dann fuhr sie herum und stürzte hinaus.
Tränen verschleierten ihren Blick, sodass sie kaum die Stufen vor sich sah, die sie hinaufstolperte. Was war aus ihrer Mutter geworden, der starken, klugen Mutter, die beim Abendbrot die Schriften von Olympe de Gouges diskutiert und die Vorlesungen des Vaters in Reinschrift gebracht hatte? Die ihr beigebracht hatte, dass auch die Frau über einen Geist verfügt, dass sie zu mehr geschaffen ist als zum Gebären und Kinderhüten. Die begeistert französische Autorinnen las und die Frau des Ersten Konsuls bewunderte.
Sophie warf sich auf ihr Bett und barg das Gesicht in den Kissen. Es war, als habe nach dem Tod des Vaters Düsternis in diesem Haus Einzug gehalten, eine beklemmende, enge Düsternis, die sie in starre Fesseln zwingen wollte. Onkel Laumanns Fesseln, und Mutter nahm sie widerspruchslos hin.
Sophie zog die
Weitere Kostenlose Bücher