Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
das Kinn geschoben, fuhr sich gedankenverloren mit den Nägeln über die überraschend unreine Haut. »Ich frage mich, was ich Ihnen getan habe, dass Sie so etwas behaupten«, sagte sie schließlich leise. Ihre Augen suchten Sophies Blick, Bitterkeit lag darin und mühsam unterdrückter Schmerz. »Gehen Sie jetzt und kommen Sie nie wieder.«
»Ich gehe, wenn ich eine Antwort habe.« Sophie verschränkte die Arme, erstaunt über ihren eigenen Mut. Oder war es bereits Dreistigkeit? »Haben Sie Helene getötet?«
»Gehen Sie! Oder ich lasse … « Katharina stockte mitten im Satz, holte japsend Luft. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich, Halt suchend krallte sich ihre Hand an die Tischkante.
Sophie war zu erschrocken, um etwas zu tun. Wie angewurzelt saß sie da, starrte auf die junge Frau, die sich langsam wieder entspannte und schwer atmend auf das Sofa niedersank.
»Soll ich jemanden rufen?«, fragte Sophie unsicher, nachdem Katharina keine Anstalten machte, etwas zu sagen. »Einen Arzt vielleicht?«
Die junge Frau wehrte mit einer schwachen Handbewegung ab. Feine Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. »Nein. Gehen Sie jetzt! Ich … brauche … Ruhe.«
Sophie nickte verstört, wandte unschlüssig den Kopf, ehe sie sich hastig verabschiedete und hinauseilte. Draußen hatte der Nieselregen nachgelassen, aber es fegte ein eisiger Wind durch die Gasse und trieb dürres Laub vor sich her. Sophie ging ein paar schnelle Schritte das abschüssige Pflaster entlang, die Hände unter die Achseln geklemmt bei dem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen. Etwas stimmte bei den Wittgens nicht, dessen war sie nun absolut sicher. Und sie würde herausfinden, was es war.
*
Der Raum roch nach Staub und Papier, nach wurmstichigem Holz und abgewetztem Leder. In Savignys Bibliothek stapelten sich die Bücher bis unter die Decke, ein Wissensschatz, der Wilhelm wie eine Erleuchtung erschienen war, als Jakob ihn das erste Mal mit hier hoch genommen hatte. Savigny erlaubte ihnen, die Bibliothek zu nutzen, sooft sie wollten, und Wilhelm ging hier in Ruhe seinen Studien nach. Dann saß er gerne am Fenster, das einen herrlichen Blick über das Tal bot, in dem sich seine Gedanken verloren, wenn er seinen Geist für einen Moment frei schweben ließ. Es half, die Konzentration zu sammeln, hatte Savigny ihm einmal erklärt, als er fragte, warum kein Vorhang vor der Ablenkung schützte. Manche Gedanken brauchten Zeit und Raum, der allein zwischen den Buchseiten nicht zu finden sei, und wenn sie zurückkehrten, seien sie reicher an Wissen und Erfahrung und böten Antworten auf Fragen, die einem zuvor verschlossen waren.
Heute fiel es Wilhelm jedoch schwer, die Gedanken wieder einzufangen. Ziellos trudelten sie umher, entzogen sich seinen Versuchen, sie mit ein paar energischen Tintenstrichen zu Papier zu bannen. Er ertappte sich dabei, dass sie hinab in die Stadt flogen zu der Toten und den Geschichten, die die Menschen bereits um sie woben. Sooft der Schultheiß auch verkündete, Helene Wittgen sei ertrunken, es änderte nichts daran, dass keine halbe Stunde später neue Gerüchte die Runde machten über den Wolf und die grauenhaften Dinge, die er dem armen Mädchen angetan haben sollte. Am vorigen Abend hatte sich erneut eine Gruppe von Bürgern zusammengerottet, um zur Jagd auf das Untier aufzurufen. Auch wenn sie sich nach einer Weile wieder zerstreut hatten, blieb die Unruhe wie ein bleiernes Tuch über der Stadt zurück.
»Trübe Gedanken, Grimm?«
Wilhelm schrak auf, als die Tür zur Bibliothek schwungvoll geschlossen wurde. Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und legte den Federhalter zur Seite. »Wenn sie trüb wären, könnte ich es auf das Wetter schieben.«
»Nicht wahr, es ist furchtbar dort draußen.« Clemens Brentano schüttelte sich und setzte sich halb abgestützt auf Wilhelms Tisch. Neugierig linste er auf das Blatt Papier, das noch nahezu unbeschrieben vor Wilhelm lag. »Weit bist du noch nicht gekommen«, stellte er fest.
»Meine Gedanken schweifen ab«, gestand Wilhelm ein und seufzte. »Zurzeit geschieht so viel um mich herum, dass es mir schwer fällt, mich auf die Studien zu konzentrieren.«
»Das kann ich verstehen«, grinste Brentano breit. Seit seine Geliebte Sophie Mereau ihr Einverständnis zur Ehe gegeben hatte und nach Marburg gekommen war, traf man Brentano ausschließlich in guter Laune an. Wilhelm hatte ihn über Savigny kennengelernt. Obwohl der junge Dichter mit seinem unsteten Wesen das genaue
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