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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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aus gebleichtem Mahagoni, die Polster in hellen, freundlichen Farben gehalten.
    Ich schlenderte durch alle Zimmer, wurde immer hungriger, während der Ozean bleiern schimmerte und eine Armee dunkler Wolken von Norden heranzog. Ein langer, mit Planken belegter Weg führte vom Haus durch die Dünen zum Meer. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand schritt ich ihn entlang, sah den Spaziergängern, den Radfahrern und den wenigen Joggern nach. Der Sand war hart und grau, und braune Pelikane formierten sich, als wollten sie einen Angriff auf Fische oder das Wetter fliegen.
    Als jemand Golfbälle ins Wasser schlug, kam ein Tümmler an die Oberfläche, und dann blies der Wind einem kleinen Jungen ein Styropor-Surfbrett aus dem Arm. Es trieb über den Strand, und der Junge rannte hinterher, so schnell er konnte. Ich beobachtete die Jagd, bis das Brett über eine Düne und meinen Zaun wirbelte. Ich lief ein paar Stufen hinunter und griff danach, bevor der Wind es erneut entführen konnte, und der Junge blieb zögernd stehen, als er sah, daß ich ihn beobachtete.
    Er war acht, neun Jahre alt, trug Jeans und ein Sweatshirt. Seine Mutter kam den Strand entlang, um ihn zu holen.
    »Kann ich bitte mein Surfbrett haben?« fragte er, den Blick gesenkt.
    »Soll ich dir helfen, es zu deiner Mutter zu tragen? Der Wind ist so stark, daß du es allein vielleicht nicht schaffst.«
    »Nein, danke«, murmelte er schüchtern und streckte die Hände aus.
    Ich stand auf dem Weg zu Annas Haus, fühlte mich zurückgewiesen und sah zu, wie er gegen den Wind ankämpfte. Schließlich preßte er das Surfbrett vor seinen Bauch und stapfte über den feuchten Sand davon. Ich blickte ihm und seiner Mutter nach, bis sie nur noch Punkte am Horizont waren. Ich versuchte mir vorzustellen, wohin sie gingen. In ein Hotel? Ein Haus? Wo verbrachten kleine Jungen und ihre Mütter hier stürmische Nächte?
    Als ich klein war, hatten wir zuwenig Geld, um Ferien zu machen, und jetzt hatte ich keine Kinder. Ich dachte an Wesley und hätte ihn am liebsten angerufen. Ich horchte auf die Brandung und entdeckte hinter Wolkenschleiern ein paar Sterne. Der Wind trug Stimmen heran, aber ich verstand die Worte nicht. Es hätte genausogut das Quaken von Fröschen oder Vogelgekreisch sein können. Mit der leeren Kaffeetasse in der Hand kehrte ich ins Haus zurück und hatte endlich einmal keine Angst.
    Mir fiel ein, daß vielleicht nichts zum Essen im Haus war und daß ich außer einer Brezel nichts zu mir genommen hatte.
    »Danke, Anna«, sagte ich, als ich ein paar Fertiggerichte fand.
    Ich erhitzte Truthahn mit Gemüse, schaltete das Gasfeuer im Kamin an und schlief auf der Couch ein, meine Browning auf dem Tisch neben mir. Ich war zu müde, um zu träumen. Als die Sonne aufging, erwachte ich, und was ich vorhatte, erschien mir unwirklich, bis ich einen Blick auf meine Aktentasche warf und an ihren Inhalt dachte. Es war zu früh, um aufzubrechen. Ich zog Jeans und einen Pullover an und machte einen Spaziergang.
    Der Sand war fest, die Sonne schimmerte golden über dem Wasser. Vögel übertönten die laute Brandung, Strandläufer suchten nach Krabben und Würmern, Möwen segelten im Wind, und Krähen lungerten herum wie schwarz gekleidete Straßenräuber.
    Ältere Menschen waren jetzt, solange die Sonne noch schwach war, unterwegs, und ich konzentrierte mich auf die Seeluft und spürte, daß ich wieder durchatmen konnte. Ich erwiderte das Lächeln von Fremden, die mir begegneten, und winkte, wenn sie mir winkten. Manche hielten Händchen, andere gingen Arm in Arm. Alleinstehende tranken Kaffee auf den Wegen und sahen hinaus aufs Wasser.
    Zurück in Annas Haus toastete ich ein Bagel, das ich in Annas Gefrierschrank gefunden hatte, und duschte lange. Dann zog ich einen schwarzen Hosenanzug an, packte und verschloß das Haus, als ob ich nicht zurückkommen würde. Ich hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, bis das Eichhörnchen wieder auftauchte.
    »O nein«, sagte ich und schloß die Wagentür auf. »Nicht du schon wieder.«
    Es stellte sich auf die Hinterbeine und hielt mir einen Vortrag. »Hör mal, Anna hat gesagt, daß ich hier wohnen kann. Ich bin eine sehr gute Freundin von ihr.«
    Seine Barthaare zuckten, als es mir seinen kleinen weißen Bauch zeigte.
    »Spar dir die Mühe, mir deine Probleme zu erzählen.« Ich warf meine Tasche auf den Rücksitz. »Anna ist der Psychiater, nicht ich.«
    Ich öffnete die Fahrertür. Es kam ein paar Schritte näher. Ich hielt es

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