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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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sehen, aber als ich mich dem großartigen Haus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg näherte, bemerkte ich ein Atito und einen Pickup. Eine alte Scheune mit Kupferdach stand hinter einem Silo. Der Himmel hatte sich bezogen, und ich fröstelte in meinem dünnen Jackett, als ich die steile Treppe hinaufstieg und klingelte.
    Ich sah dem Gesicht des Mannes sofort an, daß das Tor am Ende der Einfahrt nicht hätte offenstehen dürfen. »Das hier ist Privatbesitz«, sagte er tonlos.
    Wenn Temple Gault sein Sohn war, so gab es keine Ähnlichkeiten. Dieser Mann war drahtig, hatte graues Haar, sein Gesicht war lang und verwittert. Er trug Arbeitshosen und ein schlichtes graues Sweatshirt mit Kapuze.
    »Ich bin auf der Suche nach Peyton Gault«, sagte ich, sah ihm in die Augen und hielt meine Aktentasche fest.
    »Das Tor sollte eigentlich geschlossen sein. Haben Sie die Betreten-Verboten-Schilder nicht gesehen? Ich hab sie bloß an jeden zweiten Zaunpfahl genagelt. Was wollen Sie von Peyton Gault?
    »Das kann ich nur Peyton Gault selbst sagen.« Er musterte mich eingehend, schien unentschlossen. »Sie sind doch nicht etwa Journalistin, oder?«
    »Nein, Sir, ganz bestimmt nicht. Ich bin der Chief Medical Examiner von Virginia.« Ich reichte ihm meine Karte.
    Er lehnte sich gegen den Türrahmen, als hätte er einen Schwächeanfall. »Gott sei uns gnädig«, murmelte er. »Warum können Sie uns nicht endlich in Ruhe lassen?«
    Ich konnte mir die private Hölle nicht vorstellen, die sein Sohn ihm bereitet hatte, denn irgendwo in seinem Herzen liebte er ihn vermutlich noch.
    »Mr. Gault«, sagte ich. »Bitte, sprechen Sie mit mir.«
    Er wischte sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Tränen aus den Augenwinkeln. Die Falten auf seiner gebräunten Stirn wurden tiefer, und ein unerwarteter Sonnenstrahl färbte seine Bartstoppeln sandfarben.
    »Ich bin nicht hier, weil ich ne ugierig bin«, sagte ich. »Ich bin nicht hier, um zu recherchieren. Bitte.«
    »Seit dem Tag seiner Geburt war mit dem Jungen etwas nicht in Ordnung«, sagte Peyton Gault und wischte sich über die Augen.
    »Ich weiß, daß es schrecklich für Sie ist. Es muß ein unvorstellbares Grauen sein. Ich kann es verstehen.«
    »Niemand kann das verstehen.«
    »Bitte, lassen Sie es mich versuchen.«
    »Es wird nichts Gutes dabei herauskommen.«
    »Es kann nur Gutes dabei herauskommen. Deswegen bin ich hier.«
    Er sah mich unsicher an. »Wer hat Sie geschickt?«
    »Niemand. Ich bin aus freien Stücken gekommen.«
    »Wie haben Sie uns gefunden?«
    »Ich habe nach Ihrer Plantage gefragt«, erklärte ich.
    »Frieren Sie nicht in Ihrer Jacke?«
    »Mir ist warm.«
    »Na gut«, sagte er. »Gehen wir zum Pier.«
    Sein Pier führte durch Marschland, so weit der Blick reichte, die Barrier Islands erschienen am Horizont wie unregelmäßige Wassertürme. Wir lehnten uns an das Geländer, sahen den Winkerkrabben zu, die über den dunklen Schlamm wuselten. Ab und zu spuckte eine Austernmuschel.
    »Zu Zeiten des Bürgerkriegs arbeiteten hier 250 Sklaven«, sagte er, als ob wir freundlich miteinander plauderten. »Auf der Rückfahrt sollten Sie bei der Chapel of Ease anhalten. Es ist nicht mehr viel von ihr übrig, nur rostendes Gußeisen und ein winziger Friedhof.«
    Ich ließ ihn erzählen.
    »Die Gräber wurden schon vor Urzeiten geplündert. Ich glaube, die Kapelle stammt aus dem Jahr 1740.«
    Ich schwieg.
    Er seufzte, blickte aufs Meer hinaus.
    »Ich habe Fotos dabei, die ich Ihnen gern zeigen würde«, sagte ich leise.
    »Wissen Sie« - es schwang wieder viel Gefühl in seiner Stimme mit -, »es ist beinahe so, als ob die Überschwemmung eine Strafe für etwas gewesen sei, was ich getan habe. Ich bin auf der Plantage in Albany geboren.« Er sah mich an. »Fast zwei Jahrhunderte hat sie Kriegen und dem schlechten Wetter getrotzt. Dann hat dieser Sturm zugeschlagen, und der Flint River stieg um fast sieben Meter.
    Die Nationalgarde kam, die Militärpolizei hat alles verbarrikadiert. Das Wasser reichte bis an die Decke meines Hauses, die Bäume konnte man vergessen. Nicht daß wir auf die Pekannüsse angewiesen gewesen wären, um genug zum Leben zu haben. Aber eine Weile wohnten meine Frau und ich wie Obdachlose zusammen mit 300 anderen Menschen in einer Halle.«
    »Ihr Sohn hat diese Flut nicht verursacht«, sagte ich leise. »Nicht einmal er kann eine Naturkatastrophe heraufbeschwören.«
    »Ja, wahrscheinlich war es sowieso besser, daß wir umgezogen sind. Ständig kamen

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