Die Tote ohne Namen
Todesfälle, die ich seit dem Beginn meiner Laufbahn bearbeitet hatte, nicht zählen, aber ich begriff viele davon besser, als ich im Zeugenstand je verlauten ließ. Es ist nicht allzu schwierig, Menschen zu verstehen, die so wütend, berauscht, ängstlich oder verrückt sind, daß sie töten. Auch Psychopathen denken auf ihre verquere Art logisch. Aber Temple Brooks Gault verweigerte sich jeglicher Beschreibung oder Entschlüsselung.
Seine erste Begegnung mit der Justiz hatte vor weniger als fünf Jahren stattgefunden, als er in einer Bar in Abingdon, Virginia, White Russians getrunken hatte. Ein betrunkener Lastwagenfahrer, der effeminierte Männer nicht ausstehen konnte, begann Gault, der den schwarzen Gürtel in Karate hatte, zu schikanieren. Gault lächelte sein seltsames Lächeln und sagte kein Wort. Er stand auf, wirbelte herum und trat dem Mann gegen den Kopf. Ein halbes Dutzend Polizisten, die gerade außer Dienst waren, saß zufälligerweise am Nebentisch, und vermutlich wurde Gault nur aufgrund ihrer Anwesenheit festgenommen und des Totschlags angeklagt.
Seine Karriere im Staatsgefängnis von Virginia war kurz und bizarr. Er wurde zum Liebling eines korrupten Aufsehers, der Gault eine gefälschte Identität verschaffte und ihm zur Flucht verhalf. Gault war frei, und nach kurzer Zeit traf er auf einen Jungen namens Eddie Heath, den er auf ungefähr die gleiche Weise tötete wie die Frau im Central Park. Dann ermordete er eine meiner Mitarbeiterinnen, den Gefängnisaufseher und eine Gefängniswärterin namens Helen. Damals war Gault einunddreißig Jahre alt.
Schneeflocken wirbelten an meinem Fenster vorbei und hingen in der Ferne wie Nebel in den Bäumen. Hufe klapperten auf dem Asphalt, als eine Pferdedroschke mit zwei in karierte Decken gehüllten Fahrgästen vorbeifuhr. Die weiße Mähre war alt und nicht mehr sicher auf den Beinen, und als sie ausrutschte, schlug der Kutscher wütend auf sie ein. Andere Pferde sahen zu, gebeugt vom Wetter, die Köpfe gesenkt, das Fell ungestriegelt, und ich spürte Wut in mir aufsteigen wie Galle. Mein Herz schlug wild. Ich drehte mich abrupt um, als jemand an die Tür klopfte.
»Wer ist da?« rief ich.
Nach einem Augenblick sagte Wesley: »Kay?«
Ich ließ ihn herein. Seine Baseballmütze und die Schultern seines Mantels waren naß vom Schnee. Er streifte seine Lederhandschuhe ab, stopfte sie in die Manteltaschen und zog dann den Mantel aus, ohne den Blick von mir zu wenden.
»Was ist los?« fragte er.
»Ich werde dir sagen, was los ist.« Meine Stimme bebte. »Komm her und schau es dir an.« Ich nahm seine Hand und zog ihn zum Fenster. »Sieh dir das an! Glaubst du, daß diesen armen, elenden Pferden auch nur ein Ruhetag gegönnt wird? Glaubst du, daß sie angemessen behandelt werden? Glaubst du, daß sie jemals gestriegelt oder neu beschlagen werden? Weißt du, was passiert, wenn sie stolpern - wenn es eisig ist und sie alt sind und beinahe hinfallen?«
»Kay... «
»Sie werden um so härter geschlagen.«
»Kay... «
»Warum tust du nichts dagegen?«
»Was soll ich denn tun?«
»Irgend etwas. Die Welt ist voller Menschen, die nichts tun, und ich habe das verdammt noch mal satt.«
»Möchtest du, daß ich eine Beschwerde beim Tierschutzverein einreiche?« fragte er.
»Ja. Und ich werde mich auch beschweren.«
»Wäre es in Ordnung, wenn wir das morgen tun, weil heute alles geschlossen ist?«
Ich sah weiter zum Fenster hinaus, als der Kutscher sein Pferd erneut schlug. »Jetzt reicht's.«
»Wohin gehst du?« Er folgte mir aus dem Zimmer.
Er lief mir nach, als ich auf den Aufzug zusteuerte. Ich hastete durch die Hotellobby und trat ohne Mantel hinaus auf die Straße. Der Schnee fiel dicht und bildete eine rutschige Schicht auf den eisglatten Straßen. Das Objekt meines Zorns war ein alter Mann mit Hut, der vornübergebeugt auf dem Kutschbock saß. Er setzte sich aufrecht, als er die Dame mittleren Alters mit dem großen Mann im Schlepptau auf sich zukommen sah.
»Möchten Sie eine nette Kutschfahrt machen?« fragte er mit deutlichem Akzent.
Das Pferd streckte mir den Kopf entgegen und legte ihn schief, als ob es wüßte, was passieren würde. Es war nur narbenüberzogene Haut und Knochen, die Hufe waren eingewachsen, die Augen blutunterlaufen und dumpf.
»Wie heißt Ihr Pferd?« fragte ich.
»Schneewittchen.« Er sah ebenso elend aus wie sein armes Pferd, als er begann, die Tarife herunterzuleiern.
»Dafür interessiere ich mich nicht«, sagte
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