Die Tote ohne Namen
unternehmen, nachdem wir unsere Atemgeräte, Gesichtsmasken und Schutzschilde angelegt hatten. Wenn man an Leichen arbeitet, ist wegen Aids Vorsicht geboten vor Nadelstichen oder Schnitten, aber eine größere Gefahr stellen durch die Luft übertragene Infektionen wie Tuberkulose, Hepatitis und Meningitis dar. Heutzutage tragen wir zwei Paar Handschuhe, atmen gereinigte Luft und hüllen uns in grüne Anzüge und Kittel, die anschließend weggeworfen werden. Manche Leichenbeschauer wie zum Beispiel Rader tragen Handschuhe aus rostfreiem Stahlgeflecht, das an Kettenpanzer erinnert.
Ich zog den Schutzschild über den Kopf, als O'Donnell, der Polizeibeamte, den ich am Abend zuvor kennengelernt hatte, und Marino hereinkamen, der gereizt und verkatert aussah. Sie zogen wortlos Schutzmasken und Handschuhe an und vermieden es, die anderen anzublicken. Unsere namenlose Tote lag in dem stählernen Kühlfach 121, und während wir der Reihe nach den Umkleideraum verließen, hoben Assistenten die Leiche auf eine fahrbare Bahre. Die tote Frau war nackt und sah auf der kalten Stahlbahre erbärmlich aus.
Wo an der Schulter und der Innenseite der Oberschenkel Hautstücke fehlten und das Blut getrocknet war, waren jetzt häßliche dunkle Flecken. Ihre Haut war hellrosa verfärbt von livores mortis, wie sie typisch sind für gefrorene Leichen oder Menschen, die an Unterkühlung gestorben waren. Die Schuß Verletzung an ihrer rechten Schläfe stammte von einem großen Kaliber, und ich sah sofort den unverwechselbaren Abdruck der Mündung, die Gault ihr an den Kopf gehalten hatte, bevor er schoß.
Männer in grünen Anzügen und mit Masken rollten sie in den Röntgenraum, wo jeder von uns eine orange getönte Plastikbrille erhielt. Rader schaltete eine besondere Lichtquelle ein, das sogenannte Luma-Lite, eine schlichte Blackbox mit einem dicken blauen faseroptischen Kabel. Ein Auge, das sah, was unsere Augen nicht sehen konnten, ein weiches, weißes Licht, in dem Fingerabdrücke fluoreszierten und Haare, Fasern und Flecken von Drogen oder Sperma feuerrot leuchteten.
»Bitte das Licht ausschalten«, sagte Rader.
Im Dunkeln begann er, die Leiche mit dem Luma-Lite zu inspizieren, und Fasern leuchteten auf wie dünne, heiße Drähte. Mit einer Pinzette entfernte Rader mögliches Beweismaterial von ihrem Schamhaar, von Füßen und Händen und von den Stoppeln auf ihrem Kopf. Kleine gelbe Flecken auf den Fingerspitzen ihrer rechten Hand erstrahlten wie Sonnen, als er mit der Lampe darüberfuhr.
»Sie hat irgendeine chemische Substanz an den Fingern«, sagte Rader.
»Manchmal leuchtet Sperma so auf.«
»Ich glaube nicht, daß es Sperma ist.«
»Es könnten Drogen sein«, warf ich ein.
»Wir machen einen Abstrich«, sagte Rader. »Wo ist der Chlorwasserstoff?«
»Kommt schon.«
Das Indiz wurde sichergestellt, und Rader machte weiter. Das kleine weiße Licht suchte den Körper der Frau ab, beleuchtete die dunklen Stellen, wo ihre Haut entfernt worden war, den flachen Bauch, die sanften Wölbungen ihrer Brüste. An ihren Wunden fand sich nichts, was als Beweis hätte dienen können. Das untermauerte unsere Theorie, daß Gault sie an dem Ort getötet und verstümmelt hatte, wo sie gefunden worden war. Wäre sie nach Eintritt des Todes transportiert worden, hätten Schmutzpartikel an dem getrockneten Blut kleben müssen. Die Wunden waren die saubersten Stellen an ihrem ganzen Körper.
Wir arbeiteten so über eine Stunde, und Zentimeter um Zentimeter lernte ich ihren Körper kennen. Ihre Haut war he ll und schien nie der Sonne ausgesetzt gewesen zu sein. Ihre Muskeln waren kaum ausgebildet, sie war dünn und einen Meter siebzig groß. Ihr linkes Ohr war dreimal durchstochen, das rechte zweimal, und sie trug goldene Stecker und kleine Ringe in den Ohren. Sie war dunkelblond, hatte blaue Augen und ebenmäßige Gesichtszüge, die nicht so ausdruckslos gewirkt hätten, wenn sie sich nicht den Kopf geschoren hätte. Und wenn sie nicht tot wäre. Ihre Fingernägel waren nicht lackiert und abgebissen bis aufs Fleisch.
Die einzigen Anzeichen alter Verletzungen waren verheilte Narben auf ihrer Stirn und oben auf ihrem Kopf über dem linken Scheitelbein. Die Narben verliefen gerade und waren vier bis viereinhalb Zentimeter lang. Der einzig sichtbare Hinweis auf den Schuß war an ihren Händen: ein Abdruck des Hülsenauswurfs auf ihrer linken Handfläche zwischen Zeigefinger und Daumen, was meiner Meinung nach darauf hindeutete, daß sie ihre
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