Die Tote ohne Namen
begann, mich über sie zu ärgern.
»Sie mußten heute eine Menge absaugen. Ich weiß nicht, was genau das Problem ist, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, ihr dabei zuzuschauen, wenn sie versucht zu husten und keinen Ton herausbringt, weil ihr dieser Schlauch im Hals steckt. Sie hat es heute nur fünf Minuten ohne künstliche Beatmung ausgehalten.«
»Weiß sie, was für ein Tag heute ist?«
»O ja«, sagte Dorothy unheilvoll. »Das weiß sie. Ich habe einen kleinen Baum auf ihren Tisch gestellt. Sie hat viel geweint. «
Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust. »Wann kommst du?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Wir können jetzt nicht aus New York weg.«
»Ist dir schon einmal aufgefallen, Katie, daß du dir die meiste Zeit Sorgen um tote Menschen machst?« Ihr Tonfall war scharf. »Ich glaube, deine Beziehungen beschränken sich auf tote -«
»Dorothy, sag Mutter, daß ich sie liebe und angerufen habe. Bitte richte Lucy und Janet aus, daß ich heute abend oder morgen noch einmal anrufen werde.« Ich legte auf.
Wesley stand noch immer mit dem Rücken zu mir am Fenster. Er kannte meine Familienprobleme.
»Tut mir leid«, sagte er freundlich.
»Sie würde sich genauso verhalten, wenn ich dort wäre.«
»Ich weiß. Aber du solltest dort sein, und ich sollte zu Hause sein.«
Wenn er von zu Hause sprach, wurde mir unbehaglich, denn sein Zuhause und meines waren nicht identisch. Ich dachte wieder an Gault, und als ich die Augen schloß, sah ich die Frau vor mir, die aussah wie eine Schaufensterpuppe ohne Kleider und Perücke. Ich stellte mir ihre entsetzlichen Wunden vor.
»Benton«, sagte ich, »wen bringt er wirklich um, wenn er diese Menschen tötet?«
»Sich selbst. Gault bringt sich selbst um.«
»Das kann nicht alles sein.«
»Nein, aber es ist ein Teil.«
»Es ist wie Sport für ihn«, sagte ich.
»Ja, auch das ist richtig.«
»Wissen wir inzwischen mehr über seine Familie?.«
»Nein.« Er drehte sich nicht um. »Seine Mutter und sein Vater sind wohlauf und in Beaufort, South Carolina.«
»Sie sind von Albany weggezogen?«
»Erinnerst du dich an die Überschwemmung?«
»O ja. Die heftigen Regenfälle.«
»Der Süden Georgias wurde praktisch überflutet. Offensichtlich sind die Gaults fortgezogen und leben jetzt in Beaufort. Ich glaube, sie suchen Zurückgezogenheit.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Ja. In Georgia sind Touristenbusse an ihrem Haus vorbeigefahren. Ständig standen irgendwelche Journalisten vor ihrer Tür. Die Gaults weigern sich, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Wie du weißt, habe ich sie mehrmals gebeten, mit mir zu sprechen, und sie haben abgelehnt.«
»Ich wünschte, wir wüßten mehr über seine Kindheit«, sagte ich.
»Er ist auf der elterlichen Plantage aufgewachsen, die im Prinzip aus einem großen weißen Haus und Hunderten von Hektar mit Pekannußbäumen bestand. In der Nähe war eine Fabrik, die Nußriegel und andere Süßigkeiten produzierte, wie man sie an Raststätten und in Restaurants vorwiegend im Süden kaufen kann. Was im Haus vorging, solange Gault dort lebte, wissen wir nicht.«
»Und seine Schwester?«
»Lebt vermutlich immer noch irgendwo an der Westküste. Wir haben sie bislang nicht ausfindig machen können. Wahrscheinlich würde sie sowieso nicht mit uns reden.«
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß Gault sich mit ihr in Verbindung setzt?«
»Schwer zu sagen. Aber wir haben nichts in Erfahrung gebracht, was darauf hindeutet, daß sich die beiden in der Kindheit nahegestanden hätten. Es scheint, daß Gault in seinem ganzen Leben niemandem nahegestanden hat.«
»Wo bist du heute gewesen?« Meine Stimme klang freundlicher, und ich fühlte mich entspannter.
»Ich habe mit mehreren Polizeibeamten gesprochen und bin viel herumgelaufen.« »Aus Fitneßgründen oder der Arbeit wegen?«
»Überwiegend letzteres. Übrigens ist Schneewittchen nicht mehr da. Der Kutscher ist mit der leeren Droschke weg. Und er hat sie nicht mehr geschlagen.«
Ich machte die Augen auf. »Erzähl mir mehr darüber, wohin du gegangen bist.«
»Ich war in der Gegend um die Subway-Station Central Park West / 81. Straße, wo Gault und sein Opfer gesehen wurden. Je nach Wetter und Route braucht man von dort fünf bis zehn Minuten zu The Ramble.«
»Aber wir wissen nicht, ob sie dort waren.«
»Wir wissen überhaupt nichts«, sagte er und stieß einen langen müden Seufzer aus. »Wir haben Schuhabdrücke sichergestellt. Aber es
Weitere Kostenlose Bücher