Die Tote ohne Namen
ich, als er mich mißtrauisch von oben beäugte.
Er zuckte die Achseln. »Wie lange möchten Sie fahren?«
»Weiß ich nicht«, sagte ich kurzangebunden. »Wie lange muß ich fahren, bis Sie Schneewittchen wieder schlagen? Und schlagen Sie das Tier an Weihnachten heftiger als sonst?«
»Ich behandle mein Pferd gut«, sagte er dummerweise.
»Sie behandeln dieses Pferd grausam und wahrscheinlich alle anderen Lebewesen auch.«
»Ich habe Job zu machen«, sagte er und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Ich bin Ärztin und werde Sie melden«, sagte ich zunehmend angespannt.
»Was?« Er gluckste. »Sie Pferdedoktor?«
Ich trat so nah an die Droschke, bis ich nur noch Zentimeter von seinen zugedeckten Beinen entfernt war. »Wenn Sie das Pferd noch einmal schlagen, werde ich es sehen«, sagte ich mit der stoischen Ruhe, die ich für mir verhaßte Menschen reservierte. »Und der Mann hinter mir wird es sehen. Von dem Fenster dort oben.« Ich deutete hinauf. »Und eines Tages werden Sie aufwachen und feststellen, daß ich Ihre Firma gekauft und Sie gefeuert habe.«
»Sie kaufen keine Firma.« Er blickte neugierig zum New York Athletic Club.
»Und Sie haben keine Ahnung von der Wirklichkeit«, sagte ich.
Er vergrub das Kinn im Mantelkragen und ignorierte mich.
Schweigend kehrte ich in mein Zimmer zurück, und auch Wesley sagte nichts. Ich holte tief Luft, aber meine Hände hörten nicht auf zu zittern. Er ging zur Minibar und goß uns zwei Whiskey ein, dann setzte er mich aufs Bett, schob mir mehrere Kissen in den Rücken und legte seinen Mantel über meine Beine.
Er schaltete das Licht aus und setzte sich neben mich. Eine Weile lang massierte er mir den Nacken, während ich aus dem Fenster starrte. Der Schneehimmel war grau und naß, aber nicht so trübselig wie bei Regen. Ich wunderte mich über den Unterschied, warum sich Schnee weich anfühlte und Regen hart und irgendwie kälter.
Es war bitterkalt gewesen und hatte geregnet an jenem Weihnachten, als die Polizei von Richmond den zarten, nackten Körper von Eddie Heath entdeckt hatte. Er lehnte an einer Mülltonne hinter einem verlassenen Gebäude mit zugenagelten Fenstern. Er war bewußtlos, aber noch nicht tot. Gault hatte ihn in einem Lebensmittelladen kennengelernt, wohin Eddie von seiner Mutter geschickt worden war, um eine Dosensuppe zu holen.
Nie würde ich die Trostlosigkeit dieses schmutzigen Orts vergessen, an dem der Junge gefunden wurde, nie Gaults überflüssige Grausamkeit, er hatte die kleine Tüte mit der Suppe und dem Schokoriegel, die Eddie vor seinem Tod gekauft hatte, neben ihn gestellt. Die Einzelheiten machten das Ganze so wirklich, daß sogar der Polizist weinte. Ich dachte an Eddies Wunden und erinnerte mich an seine warme Hand, als ich ihn auf der pädiatrischen Intensivstation untersuchte, bevor die lebensverlängernden Maschinen abgeschaltet wurden.
»O Gott«, murmelte ich in dem dunklen Zimmer. »O Gott, ich habe es so satt.«
Wesley antwortete nicht. Er hatte sich erhoben und stand jetzt neben dem Fenster, das Glas in der Hand.
»Ich habe Grausamkeit so satt. Ich habe Menschen so satt, die Pferde schlagen und kleine Jungen und Frauen mit Kopfverletzungen umbringen.«
Wesley drehte sich nicht um. »Es ist Weihnachten. Du solltest deine Familie anrufen«, sagte er.
»Du hast recht. Das wird mich bestimmt aufheitern.« Ich putzte mir die Nase und griff nach dem Telefon.
Bei meiner Schwester in Miami antwortete niemand. Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Adreßbuch und rief das Krankenhaus an, in dem meine Mutter seit Wochen lag. Eine Schwester auf der Intensivstation sagte, daß Dorothy bei ihr sei und sie sie holen würde.
»Hallo?«
»Frohe Weihnachten«, sagte ich zu meiner einzigen Schwester.
»Vermutlich meinst du das ironisch, angesichts des Ortes, an dem ich mich aufhalte. Hier ist nichts und niemand froh, aber das kannst du ja nicht wissen, weil du nicht da bist.«
»Ich weiß, wie Intensivstationen aussehen«, erwiderte ich. »Wo ist Lucy, und wie geht es ihr?«
»Sie ist mit ihrer Freundin unterwegs. Sie haben mich hier abgesetzt und werden mich in ungefähr einer Stunde wieder abholen. Dann gehen wir in die Kirche. Das heißt, ich weiß nicht, ob die Freundin mitkommt, weil sie nicht katholisch ist.«
»Lucys Freundin hat einen Namen. Er lautet Janet, und sie ist sehr nett.«
»Darüber will ich nicht reden.«
»Wie geht es Mutter?«
»Unverändert.«
»Unverändert heißt was, Dorothy?« Ich
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