Die Tote ohne Namen
sehen.«
»Vielleicht hat er sie früher getroffen, sie ins Museum mitgenommen und für sie bezahlt.«
»Vielleicht hilft es, wenn wir uns ansehen, was er sich angesehen hat«, sagte ich.
»Ich weiß, was sich der Geisteskranke angesehen hat. Haifische.«
Das Essen war hervorragend, und es wäre angenehm gewesen, stundenlang im Tatou sitzen zu bleiben. Ich war so unendlich müde, wie ich es manchmal werde. Diese Neigung beruhte auf vielen Schichten Schmerz und Traurigkeit, deren Grundstein in meiner Jugend gelegt wurde. Über die Jahre hatte sie sich verstärkt, und ab und zu verfiel ich in düstere Stimmung. So wie jetzt.
Ich zahlte die Rechnung, denn wann immer Marino und ich zusammen aßen und ich das Restaurant bestimmte, zahlte ich. Marino konnte sich das Tatou eigentlich nicht leisten. Er konnte sich New York eigentlich nicht leisten. Als ich meine MasterCard betrachtete, fiel mir meine American-Express-Karte ein, und meine Stimmung verfinsterte sich noch mehr.
Um uns die Haifischausstellung im Museum of Natural History anzusehen, mußten wir jeder fünf Dollar zahlen und in den dritten Stock hinaufgehen. Marino war auf der Treppe langsamer als ich und versuchte, sein angestrengtes Atmen zu verbergen.
»Verdammt, man sollte annehmen, daß es in dieser Bude einen Aufzug gibt«, klagte er.
»Gibt es«, sagte ich. »Aber Treppensteigen tut dir gut. Es ist vielleicht die einzige körperliche Anstrengung, die uns heute vergönnt ist.«
Wir betraten die Reptilien- und Amphibienabteilung, kamen an einem über vier Meter langen amerikanischen Krokodil vorbei, das vor hundert Jahren in Biscayne Bay erlegt worden war. Marino konnte nicht anders, er mußte vor jedem Exponat kurz stehenbleiben, und ich warf einen Blick auf Eidechsen, Schlangen, Leguane und Gila-Monster.
»Komm«, flüsterte ich ihm zu.
»Schau nur, wie groß das Ding ist.« Marino bewunderte die fast sieben Meter langen Überreste einer Netzpython. »Kannst du dir vorstellen, im Urwald auf so eine zu treten?«
In Museen beginne ich immer zu frieren, egal, wie gut es mir gefällt. Ich schreibe dieses Phänomen den harten Marmorböden und der Höhe der Räume zu. Aber ich hasse Schlangen. Mich ekelt vor Speikobras, vor Eidechsen mit ihren Hautfalten und vor Alligatoren. Eine Gruppe junger Leute mit Führer stand vor einem Kasten mit Komodowaranen aus Indonesien und Lederschildkröten, die nie wieder im Wasser schwimmen oder über Sand kriechen würden.
»Ich bitte euch, wenn ihr am Strand seid und Plastikabfall habt, werft ihn in die Abfalleimer, denn diese Kerle haben keinen Doktortitel«, sagte der Führer mit der Leidenschaft eines Evangelisten. »Sie denken, es sind Quallen...«
»Marino, gehen wir weiter.« Ich zupfte ihn am Ärmel.
»Ich war seit meiner Kindheit in keinem Museum mehr. Nein, warte.« Er schien überrascht. »Das stimmt nicht. Verdammt, ich war einmal mit Doris hier. Mir kam die Bude doch gleich bekannt vor.«
Doris war seine Exfrau.
»Ich hatte gerade bei der New Yorker Polizei angefangen, und Doris war schwanger mit Rocky. Ich erinnere mich, daß wir ausgestopfte Affen und Gorillas angeschaut haben, und ich habe zu ihr gesagt, daß das Unglück bringt, daß unser Kind wie ein Affe von Baum zu Baum hüpfen und Bananen fressen wird.«
»Ich bitte euch. Es gibt immer weniger und weniger und weniger!« Der Führer redete und redete über die Misere der Meeresschildkröten.
»Und so ist es dann womöglich auch gekommen«, fuhr Marino fort. »Weil wir hier in dieser Bude waren.«
Nur ganz selten hörte ich ihn über sein einziges Kind sprechen. So gut ich Marino kannte, so wenig wußte ich über seinen Sohn.
»Ich wußte nicht, daß dein Sohn Rocky heißt«, flocht ich beiläufig ein, als wir weitergingen.
»Eigentlich heißt er Richard. Als Kind nannten wir ihn Ricky, und das wurde irgendwie zu Rocky. Manche nennen ihn Rocco. Er hat viele Namen.«
»Hast du viel Kontakt mit ihm?«
»Dort ist der Museumsladen. Vielleicht sollte ich Molly einen Haifisch-Schlüsselanhänger kaufen.«
»Das können wir machen.«
Er überlegte es sich anders. »Vielleicht sollte ich ihr auch nur Bagels mitbringen.«
Ich wollte wegen seines Sohnes nicht weiter in ihn dringen, aber das Thema war nun einmal angeschnitten, und ich glaubte, daß die Entfremdung zwischen Vater und Sohn der Grund für viele von Marinos Problemen war.
»Wo ist Rocky?« fragte ich vorsichtig.
»In einem Kaff namens Darien.«
»Connecticut? Das ist kein
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