Die Tote ohne Namen
erreicht.«
Sie brach ein kleines Stück von einem Plätzchen ab und schob es sich in den Mund. Dann sagte sie. »Der Beamte, der den Strafzettel ausgestellt hat, ist hier in New York in einer italienischen Familie aufgewachsen, Dr. Scarpetta. Er hielt den Akzent des Mannes für echt. Gault muß sehr gut sein.« »Da bin ich mir sicher.«
»Hat er auf dem College oder in der High-School Italienisch gelernt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Aber er hat das College nicht abgeschlossen.« »Wo war er?«
»Auf einem Privatcollege in North Carolina, Davidson.« »Es ist teuer und schwer, dort angenommen zu werden.« »Ja. Seine Familie hat Geld, und Gault ist außergewöhnlich intelligent. Soweit ich weiß, hat er es ein Jahr dort ausgehalten.«
»Wurde er rausgeworfen?« Es war klar, daß sie fasziniert von ihm war.
»Soweit ich weiß, ja.«
»Warum?«
»Ich glaube, er hat sich nicht an den Ehrenkodex gehalten. « »Kaum zu glauben, ich weiß«, sagte Marino sarkastisch. »Und was kam dann? Ging er auf ein anderes College?« fragte Commander Penn. »Ich glaube nicht«, sagte ich.
»War jemand in Davidson, um Nachforschungen über ihn anzustellen?« Sie schien skeptisch, ob diejenigen, die an diesem Fall arbeiteten, auch genug taten.
»Das weiß ich nicht, aber um ehrlich zu sein, ich bezweifle es.«
»Er ist erst Anfang Dreißig. Es ist noch nicht so lange her. Die Leute dort sollten sich noch an ihn erinnern.«
Marino hatte angefangen, Stücke aus seinem Styroporbecher zu brechen. Er sah Frances Penn an. »Haben Sie überprüft, ob es diesen Benelli tatsächlich gibt?«
»Wir sind dabei. Bisher wurde es nicht bestätigt«, erwiderte sie. »Diese Dinge dauern manchmal lange, besonders um diese Zeit des Jahres.«
»Das FBI hat einen juristischen Attache in der amerikanischen Botschaft in Rom«, sagte ich. »Er könnte die Sache beschleunigen.«
Wir redeten noch eine Weile, dann brachte uns Commander Penn zur Tür.
»Dr. Scarpetta«, sagte sie. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, bevor Sie gehen?«
Marino sah uns beide an und sagte dann, als hätte die Frage ihm gegolten. »Klar. Nur zu. Ich warte draußen.«
Commander Penn schloß die Tür. »Könnten wir uns später noch einmal treffen?« fragte sie mich.
Ich zögerte. »Das wäre möglich. Woran haben Sie gedacht?><
»Vielleicht könnten wir zusammen zu Abend essen, so gegen sieben? Wir könnten noch etwas plaudern, in entspannterer Atmosphäre.« Sie lächelte.
Ich hatte gehofft, mit Wesley essen gehen zu können. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich komme gern.«
Sie gab mir ihre Karte. »Meine Adresse. Bis später.«
Marino fragte nicht, was Commander Penn und ich gesprochen hatten, aber er war neugierig und hatte Angst, ausgeschlossen zu werden.
»Alles in Ordnung?« fragte er, als wir zum Aufzug geführt wurden.
»Nein«, sagte ich. »Es ist nicht alles in Ordnung. Wäre alles in Ordnung, wären wir jetzt nicht in New York.«
»Himmel«, sagte er etwas säuerlich, »seit ich Polizist bin, habe ich keinen Feiertag mehr frei gehabt. Feiertage gibt es für Leute wie uns nicht.«
»Es sollte sie aber geben«, sagte ich und winkte einem Taxi, das aber schon besetzt war.
»Quatsch. Wie oft mußtest du an Heiligabend, an den Weihnachtstagen, an Thanksgiving oder Labor Day arbeiten?«
Ein weiteres Taxi fuhr vorbei.
»An Feiertagen wissen Geisteskranke wie Gault nicht, wohin, und sie haben niemanden, den sie besuchen können, und deswegen amüsieren sie sich, indem sie morden. Und die halbe Menschheit wird depressiv und verläßt Mann oder Frau, bläst sich das Hirn aus dem Kopf oder betrinkt sich und kommt bei einem Autounfall ums Leben. «
»Verdammt«, murrte ich und blickte mich auf der verkehrsreichen Straße um. »Es wäre schön, wenn du dich an diesem Unterfangen beteiligen würdest. Es sei denn, du möchtest zu Fuß über die Brooklyn Bridge gehen.«
Er trat auf die Straße und winkte mit beiden Armen. Augenblicklich steuerte ein Taxi auf uns zu und hielt an. Wir stiegen ein. Der Fahrer war Iraner, und Marino behandelte ihn nicht gerade freundlich. Zurück in meinem Zimmer, nahm ich ein langes, heißes Bad und versuchte erneut, Lucy zu erreichen. Leider nahm Dorothy ab.
»Wie geht es Mutter?« fragte ich ohne Umschweife.
»Lucy und ich waren den ganzen Vormittag bei ihr im Krankenhaus. Sie ist sehr deprimiert und sieht entsetzlich aus. Wenn ich an all die Jahre denke, die ich ihr gesagt habe, sie soll zu rauchen
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