Die Tote ohne Namen
schwebende Juwelenkette überspannte. »Sie trinken Scotch?«
»Etwas Leichteres wäre mir lieber«, sagte ich und setzte mich auf eine elegante honigfarbene Ledercouch.
»Wein?«
Ich bejahte, und sie ging kurz in die Küche und kehrte mit zwei Gläsern eiskaltem Chardonnay zurück. Commander Penn trug schwarze Jeans und einen grauen Wollpullover, dessen Ärmel sie hochgeschoben hatte. Ihre Unterarme waren von schrecklichen Narben entstellt.
»Die stammen aus meinen jüngeren, draufgängerischen Tagen.« Sie hatte meinen Blick bemerkt. »Ich saß hinten auf einem Motorrad und habe eine Menge Haut auf der Straße gelassen.«
»Organspendermaschinen nennen wir sie«, sagte ich.
»Das Motorrad gehörte meinem Freund. Ich war siebzehn, er zwanzig.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Er wurde auf die Gegenfahrbahn geschleudert und überfahren«, sagte sie sachlich, wie jemand, der oft und freiheraus über einen Verlust geredet hatte. »Damals begann ich mich für die Arbeit der Polizei zu interessieren.« Sie nippte an ihrem Wein. »Fragen Sie mich nicht nach der Verbindung, weil ich nicht sicher bin, ob ich sie kenne.«
»Wenn man eine Tragödie erlebt, fängt man bisweilen an, sie zu studieren.«
»Ist das Ihre Erklärung?« Sie sah mich eingehend an, aus Augen, denen kaum etwas entging und die noch weniger enthüllten.
»Mein Vater starb, als ich zwölf war«, sagte ich.
»Wo?«
»In Miami. Er besaß einen kleinen Lebensmittelladen, den schließlich meine Mutter übernahm, weil er viele Jahre krank war, bevor er starb.«
»Wenn Ihre Mutter den Laden geschmissen hat, wer hat dann den Haushalt gemacht?«
»Ich.«
»Das habe ich mir gedacht. Wahrscheinlich hätte ich Ihnen das schon sagen können, bevor Sie auch nur ein Wort erzählt haben. Und ich tippe, Sie sind die älteste Tochter, haben keine Brüder und waren schon immer jemand, der sein Soll übererfüllt und ein Scheitern nicht hinnehmen kann.«
Ich hörte zu.
»Persönliche Beziehungen sind Ihre Nemesis, weil man mit Ihrer Leistungsorientiertheit jede gute Beziehung kaputtmacht. Eine glückliche Liebesbeziehung kann man sich nicht verdienen, und zu einer glücklichen Ehefrau kann man nicht befördert werden. Und wenn jemand, den Sie mögen, ein Problem hat, dann glauben Sie, daß Sie es hätten verhindern oder zumindest aus der Welt schaffen müssen.«
»Warum sezieren Sie mich?« fragte ich sie. Sie faszinierte mich.
»Ihre Geschichte ist meine Geschichte. Es gibt viele Frauen wie uns. Aber wir scheinen uns nie nahezukommen, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?«
»Es fällt mir ständig auf.«
»Tja« - sie stellte ihr Glas ab -, »ich habe Sie wirklich nicht eingeladen, um Sie auszufragen. Aber um ehrlich zu sein, ich wollte natürlich, daß wir uns besser kennenlernen.«
»Danke, Frances«, sagte ich. »Es freut mich, daß Sie das sagen.«
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Sie stand auf und ging wieder in die Küche. Ich hörte, wie eine Kühlschranktür zuschlug, Wasser lief und Pfannen abgestellt wurden. Gleich darauf war sie zurück mit der Flasche Chardonnay in einem Weinkühler, den sie auf ein gläsernes Tischchen stellte.
»Das Brot ist im Ofen, der Spargel im Topf, alles, was ich noch machen muß, ist, die Krabben sautieren«, sagte sie und setzte sich wieder.
»Frances«, sagte ich, »seit wann ist Ihre Abteilung an CAIN angeschlossen?«
»Erst seit ein paar Monaten. Wir waren eine der ersten Behörden im Land, die online gingen.«
»Was ist mit NYPD?«
»Sie sind dabei. Die Transit Police hat ein ausgeklügelteres Computersystem und ein hervorragendes Team von Programmierern und Systemanalytikern. Deswegen waren wir sehr früh dran.«
»Dank Ihnen.«
Sie lächelte.
»Ich weiß, daß die Polizei von Richmond angeschlossen ist«, fuhr ich fort. »Ebenso Chicago, Dallas, Charlotte, die Virginia State Police, die britische Transport Police. Und eine Reihe Polizeibehörden hier und im Ausland sind dabei, sich anzuschließen.«
»Warum beschäftigt Sie das?«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist, als an Weihnachten die unidentifizierte Frau gefunden wurde, von der wir annehmen, daß Gault sie umgebracht hat. Wie kam da CAIN ins Spiel?«
»Am frühen Morgen wurde die Le iche im Central Park gefunden, und ich erfuhr natürlich sofort davon. Wie ich schon einmal erwähnte, kam mir die Vorgehensweise des Täters vage bekannt vor, deswegen gab ich die Einzelheiten CAIN ein, um zu sehen, ob etwas zurückkäme.
Weitere Kostenlose Bücher