Die Tote ohne Namen
ein Programmierer, der sich mit CAIN genau auskennt, kann sich einloggen und so eine Meldung fälschen. Und noch mal, um mich zu wiederholen, laut Benutzerprotokoll hat niemand herumgespielt.«
Lucy erklärte mir noch einmal, daß CAIN mit einem UNIXSystem arbeitete, wobei lokale Netze an größere Netze angeschlossen waren. Sie sprach über Netzverbindungsrechner und Anschlüsse und Paßwörter, die automatisch alle sechzig Tage geändert wurden. Nur die drei Superuser, darunter sie, konnten wirklich mit CAIN herumspielen. User an anderen Orten, wie der Beamte in London, konnten nichts weiter tun, als Daten an einem dummen Terminal oder in einen PC eingeben, der mit dem Zwanzig- Gigabyte-Rechner in Quantico verbunden war.
»CAIN ist wahrscheinlich das sicherste Computernetz, das es überhaupt gibt«, fügte Lucy hinzu. »Es absolut dicht zu halten, hat oberste Priorität.«
Aber es war nicht absolut dicht. Letzten Herbst war in der ERF eingebrochen worden, und wir hatten Grund zu der Annahme, daß Gault etwas damit zu tun hatte. Ich mußte Lucy nicht daran erinnern. Damals hatte sie in Quantico ein Praktikum gemacht, und jetzt war sie dafür verantwortlich, die Einbruchsschäden zu beheben.
»Tante Kay«, sagte sie und las meine Gedanken, »ich habe CAIN auf den Kopf gestellt. Ich habe jedes Programm überprüft und große Teile von einigen neu geschrieben, um sicherzustellen, daß keine Gefahr droht.«
»Keine Gefahr von wem?« fragte ich. »Von CAIN oder Gault?«
»Niemand kann hinein«, sagte sie sachlich. »Niemand. Niemand kann das.«
Dann erzählte ich ihr von meiner American-Express-Karte, und ihr Schweigen ließ mich frösteln.
»O nein«, sagte sie. »Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Erinnerst du dich, daß ich sie dir letzten Herbst gegeben habe, als du das Praktikum bei der ERF angefangen hast? Du solltest sie für Flugtickets und Zugfahrkarten benutzen.«
»Aber ich habe sie nie gebraucht, weil du mir dein Auto gegeben hast. Dann ist der Unfall passiert, und eine Zeitlang bin ich nirgendwohin gefahren.«
»Wo hast du die Karte aufbewahrt? In deiner Brieftasche?«
»Nein«, bestätigte sie meine Ängste. »In der ERF, in einem Umschlag, der in meiner Schreibtischschublade lag. Ich dachte mir, dort wäre sie sicher.«
»Und dort war sie auch, als eingebrochen wurde?«
»Ja. Sie ist verschwunden, Tante Kay. Je länger ich darüber nachdenke, um so sicherer bin ich mir. Sonst hätte ich sie seitdem gesehen«, stammelte sie. »Sie wäre mir irgendwann in die Hände gefallen. Ich werde nachsehen, sobald ich zurück bin, aber ich weiß, daß sie nicht mehr da ist.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte ich.
»Es tut mir schrecklich leid. Hat jemand viel Geld damit ausgegeben?«
»Das glaube ich nicht.« Ich erzählte ihr nicht, wer der jemand war.
»Hast du sie sperren lassen?«
»Dafür wird gesorgt. Sag deiner Mutter, daß ich sobald wie möglich kommen werde.«
»Sobald wie möglich heißt bei dir, daß es noch einige Zeit dauern wird«, sagte meine Nichte.
»Ich weiß. Ich bin eine schreckliche Tochter und eine miserable Tante.« »Du bist nicht immer eine miserable Tante.« »Vielen herzlichen Dank«, sagte ich.
7
Commander Penns Privatwohnung war im Westen von Manhattan, man konnte die Lichter New Jerseys am gegenüberliegenden Ufer des Hudson River sehen. Sie wohnte im fünfzehnten Stock eines schmuddeligen Gebäudes in einem heruntergekommenen Teil der Stadt, was man vergaß, kaum hatte sie ihre weiße Wohnungstür aufgemacht.
Ihre Wohnung war voll Licht und Kunst, und es roch nach edlen Hölzern. Tuschezeichnungen, abstrakte Aquarelle und Pastelle hingen an den weiß gestrichenen Wänden. An den Büchern in den Regalen und auf den Tischen sah man, daß sie Ayn Rand und Annie Leibovitz mochte und viele Biographien und historische Bücher gelesen hatte, auch Shelby Footes hervorragendes Werk über diesen schrecklichen, tragischen Krieg.
»Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte sie.
Ich reichte ihn ihr, dazu die Handschuhe und einen schwarzen Kaschmirschal, den ich sehr mochte, weil er ein Geschenk von Lucy war.
»Ich habe ganz vergessen, Sie zu fragen, ob es etwas gibt, was Sie nicht essen«, sagte sie vom Wandschrank neben der Wohnungstür. »Essen Sie Schalentiere? Wenn nicht, dann habe ich auch Huhn.«
»Ich liebe Schalentiere.«
»Gut.« Sie führte mich ins Wohnzimmer, das einen herrlichen Blick auf die George Washington Bridge bot, die den Fluß wie eine in der Luft
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