Die Tote ohne Namen
hatte. Das Opfer war ein Mann, auf den in einem Motelzimmer in Florida 122mal eingestochen worden war. Er war mit einer Binde erwürgt worden, seine Leiche lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett.
»Es handelt sich um ein Verbrechen mit einer bestimmten Handschrift. Der offensichtliche Overkill und die ungewöhnliche Art, ihn zu fesseln«, sagte Wesley. »Genau. Eine Schlinge um jedes Handgelenk, wie Handschellen.«
Ich setzte mich. Wesley hatte eine Lesebrille auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er wirkte erschöpft. Ich blickte zu den schönen Ölgemälden an den Wänden und zu den signierten Büchern in den Glasschränken. Schriftsteller und Drehbuchautoren nahmen oft Kontakt zu ihm auf, aber er prahlte nicht mit seinen Verbindungen zu berühmten Menschen. Er hielt so etwas für peinlich und geschmacklos. Und wenn es ausschließlich nach ihm ginge, würde er vermutlich mit niemandem reden.
»Ja, es ist eine fürchterlich blutige Art, jemanden umzubringen, gelinde gesagt. Das gilt auch für die früheren Morde. Es geht hier um Dominanz, um ein wütendes Ritual.«
Ich bemerkte mehrere hellblaue FBI-Handbücher von der ERF auf seinem Schreib tisch. Eines davon war das Handbuch für CAIN, das Lucy mitverfaßt hatte, und an vielen Stellen steckten Büroklammern. Ich fragte mich, ob sie von ihr oder von ihm stammten, und ich beantwortete die Frage intuitiv, und das Herz wurde mir schwer. Wie immer, wenn Lucy in Schwierigkeiten war.
»Das hat sein Gefühl für Dominanz bedroht.« Wesley sah mich an. »Ja, die Reaktion ist immer Wut. Bei so einem wie ihm immer.«
Er trug eine schwarze Krawatte mit blaßgoldenen Streifen und wie üblich ein gestärktes weißes Hemd. Dazu Manschettenknöpfe mit den Insignien des Justizministeriums, seinen Ehering und eine schlichte goldene Uhr an einem schwarzen Lederband, die Connie ihm zu ihrem 15. Hochzeitstag geschenkt hatte. Er und seine Frau stammten aus wohlhabenden Familien, und die Wesleys lebten gut, auf unauffällige Weise. Er legte auf und nahm seine Brille ab.
»Was ist los?« fragte ich und haßte es, zu spüren, wie seine Gegenwart meinen Puls beschleunigte. Er sammelte die Fotos ein und schob sie in einen Umschlag. »Ein weiteres Opfer in Florida.« »In der Gegend von Orlando?« »Ja. Ich schick dir die Berichte, sobald wir sie haben.«
Ich nickte und wechselte das Thema. »Ich nehme an, du weißt, was in New York passiert ist.«
»Der Piepser.«
Ich nickte wieder.
»Leider weiß ich Bescheid.« Er seufzte. »Er verhöhnt uns, zeigt uns seine Verachtung. Spielt seine Spiele mit uns, und es wird schlimmer.«
»Es wird viel schlimmer. Aber wir sollten uns nicht nur auf ihn konzentrieren«, sagte ich.
Er hörte zu, sah mich dabei unverwandt an, seine Hände lagen gefaltet auf der Akte des ermordeten Mannes, über den er gerade am Telefon gesprochen hatte.
»Es wäre nur zu einfach, Gault zur Obsession werden zu lassen und darüber den Rest des Falles zu vergessen. Zum Beispiel erscheint es mir überaus wichtig, diese Frau zu identifizieren, die er im Central Park vermutlich ermordet hat.«
»Ich gehe davon aus, daß das alle für wichtig erachten, Kay.«
»Alle sagen, daß sie es für wichtig halten.« Leiser Ärger schwang in meiner Stimme mit. »Aber tatsächlich will die Polizei, will das FBI Gault dingfest machen, und die obdachlose Frau zu identifizieren hat keine Priorität. Sie ist nur eine weitere mittel- und namenlose Person, die Häftlinge in Potter's Field begraben werden.«
»Offenbar hat sie für dich höchste Priorität.«
»Absolut.«
»Warum?«
»Ich glaube, daß sie uns noch etwas zu sagen hat.«
»Über Gault?«
»Ja.«
»Worauf basiert deine Vermutung?«
»Instinkt«, sagte ich. »Und sie hat Priorität, weil wir moralisch und aufgrund unseres Berufs verpflichtet sind, alles in unserer Macht Stehende für sie zu tun. Sie hat das Recht, mit ihrem Namen beerdigt zu werden.«
»Selbstverständlich hat sie das. NYPD, die Transit Police, das FBI - wir alle wollen sie identifizieren.«
Aber ich glaubte ihm nicht. »Letztlich ist sie uns egal«, sagte ich tonlos. »Der Polizei, den Pathologen, deiner Abteilung. Wir wissen, wer sie umgebracht hat, und deshalb ist unwichtig, wer sie ist. So ist es nun mal, wenn die Justiz sosehr von Gewalttaten überschwemmt wird, wie das in New York der Fall ist.«
Wesley starrte ins Leere, seine schlanken Finger fuhren über einen Mont-Blanc-Füller. »Leider steckt ein Körnchen Wahrheit
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