Die Tote ohne Namen
in dem, was du sagst.« Er blickte mich wieder an. »Es ist uns gleichgültig, weil wir nicht anders können. Nicht weil wir nicht wollten. Ich will Gault, bevor er wieder mordet. Das ist mir am wichtigsten.«
»Das sollte es auch sein. Aber wir wissen nicht, ob uns die tote Frau nicht dabei helfen kann, ihn zu schnappen. Vielleicht kann sie es.«
Er sah deprimiert aus und hörte sich erschöpft an. »Es scheint, ihre einzige Verbindung zu Gault ist, daß er sie im Museum kennengelernt hat«, sagte er. »Wir haben ihre Habseligkeiten untersucht, und nichts darunter führt uns zu ihm. Meine Frage ist daher: Was können wir von ihr noch erfahren, das uns weiterhilft?«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn ich in Virginia unbekannte Gewaltopfer habe, tue ich alles, um sie zu identifizieren. In diesem Fall handelt es sich um New York, aber ich bin involviert, weil ich mit deiner Abteilung zusammenarbeite und du zu den Ermittlungen hinzugezogen wurdest.« Ich sprach voller Überzeugung, als ob hier in diesem Raum Janes Mörder der Prozeß gemacht würde. »Wenn mir nicht gestattet wird, meine Standards aufrechtzuerhalten, dann stehe ich dem FBI nicht länger als Beraterin zur Verfügung.«
Wesley hörte sich das alles mit sorgenvoller Ungeduld an. Ich wußte, daß er mehr oder weniger ebenso frustriert war wie ich, aber es gab einen Unterschied. Er war nicht in ärmlichen Umständen aufgewachsen, und wenn wir uns wirklich stritten, hielt ich ihm das immer vor.
»Wenn sie jemand Wichtiges gewesen wäre«, sagte ich, »dann wäre es niemandem gleichgültig.«
Er schwieg.
»Wenn man arm ist, gibt es keine Gerechtigkeit«, sagte ich, »außer jemand dringt darauf.«
Er starrte mich an.
»Benton, ich tue es.«
»Erklär mir, was du willst«, sagte er.
»Ich will alles, was nötig ist, um herauszufinden, wer sie ist. Ich will, daß du mich dabei unterstützt.«
Er sah mich eine Weile an. Er analysierte. »Warum ausgerechnet bei diesem Opfer?« fragte er.
»Ich dachte, das hätte ich gerade erklärt.«
»Sei vorsichtig. Paß auf, daß deine Motivation nicht subjektiv ist.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Lucy.«
Ich war irritiert.
»Lucy hätte eine ebenso schwere Kopfverletzung davontragen können wie diese Frau«, sagte er. »Lucy war immer schon eine Art Waisenkind, und vor nicht allzu langer Zeit ist sie einfach nach Neuengland verschwunden, und du mußtest sie suchen.«
»Du wirfst mir vor, daß ich projiziere.«
»Ich werfe dir nichts vor. Ich gebe dir nur eine Möglichkeit zu bedenken.«
»Ich versuche lediglich, meine Arbeit zu tun«, sagte ich. »Ich habe nicht den Wunsch, psychoanalysiert zu werden.«
»Ich verstehe.« Er hielt inne. »Tu, was immer du tun mußt. Ich unterstütze dich dabei, so gut ich kann. Und das wird bestimmt auch Pete tun.«
Dann wandten wir uns dem tückischeren Thema Lucy und CAIN zu, und darüber wollte wiederum Wesley nicht reden. Er stand auf, um Kaffee zu holen, als im Vorzimmer das Telefon klingelte und seine Sekretärin eine weitere Nachricht aufnahm. Das Telefon klingelte seit meiner Ankunft, und ich wußte, daß es immer so war. Wie bei mir. Die Welt war voll verzweifelter Menschen, die unsere Nummern und niemanden sonst hatten, den sie anrufen konnten.
»Erzähl mir einfach, was sie deiner Meinung nach getan hat«, sagte ich, als er mit dem Kaffee zurückkam.
Er stellt eine Tasse vor mir ab. »Du redest wie ihre Tante«, sagte er.
»Nein. Im Augenblick rede ich wie ihre Mutter.« »Mir wäre es lieber, wir würden wie zwei Profis darüber reden.«
»Gut. Mach den Anfang, indem du mich informierst.«
»Die Spionage, die letzten Oktober begann, als in die ERF eingebrochen wurde, geht immer noch weiter«, sagte er. »Irgend jemand hat CAIN geknackt.«
»Soviel weiß ich.«
»Wir wissen nicht, wer es ist.«
»Wir nehmen an, daß es Gault ist«, sagte ich.
Wesley griff nach seinem Kaffee. Er sah mir in die Augen. »Ich bin kein Computerfachmann. Aber es gibt da etwas, was du wissen mußt.«
Er öffnete eine dünne Akte und nahm ein Blatt Papier heraus. Es handelte sich um einen Computerausdruck.
»Das ist CAINs Benutzerprotokoll für den genauen Zeitpunkt, zu dem die letzte Botschaft an das VICAP-Terminal der New Yorker Transit Police geschickt wurde«, sagte er. »Fällt dir etwas Ungewöhnliches auf?«
Ich dachte an den Ausdruck, den Lucy mir gezeigt hatte, an die Mitteilung betreffs »toter Polizisten«. Ich mußte eine Weile die Logins und Logouts, die
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