Die Tote ohne Namen
durchsuchte den Kühlschrank.
»Was hast du zu bieten?« Ich sah zu, wie sich ihre schmale Gestalt vorbeugte, mit einem Arm hielt sie die Tür offen, mit dem anderen schob sie Dosen hin und her.
»Diät Pepsi, Zima, Gatorade und Perrier.« »Zima?«
»Kennst du das nicht?«
»Ich trinke kein Bier.«
»Es ist kein Bier. Es wird dir schmecken.«
»Ich wußte gar nicht, daß es hier einen Zimmerservice gibt«, sagte ich und lächelte.
»Ich hab das Zeug aus dem PX-Laden geholt.«
»Bring mir ein Perrier.«
Sie kam mit den Getränken.
»Aber es gibt doch Antivirusprogramme«, sagte ich.
»Antivirusprogramme finden nur bekannte Viren wie Freitag der dreizehnte, die Malteseramöbe, den Affenvirus oder Michelangelo. Wir haben es hier mit einem Virus zu tun, der speziell für CAIN geschaffen wurde. Er hat etwas mit seinen Programmen zu tun. Es gibt kein Antivirusprogramm dafür, es sei denn, ich schreibe eines.«
»Was du erst tun kannst, wenn du den Virus gefunden hast.«
Sie trank einen großen Schluck Gatorade.
»Lucy, sollte man CAIN abschalten?«
Sie stand auf. »Ich werde mal nach Jan sehen. Sie kommt nicht durch die Türen, und ich bezweifle, daß wir sie klopfen hören.«
Ich stand auf und trug mein Gepäck in mein Schlafzimmer, das mit schlichten Möbeln aus Kiefernholz eingerichtet war. Durch die Fenster hatte ich einen freien Blick auf schneebedeckte Felder, die sich bis zu unermeßlichen Wäldern erstreckten. Die Sonne schien so hell, daß es fast schon wie im Frühling war, und ich wünschte, ich hätte Zeit, ein Bad zu nehmen. Ich wollte mir New York abwaschen.
»Tante Kay? Wir sind da«, rief Lucy, während ich mir die Zähne putzte.
Ich spülte mir schnell den Mund aus und ging zurück ins Wohnzimmer. Lucy machte neben der Tür Dehnungsübungen. Ihre Freundin hatte einen Fuß auf einen Stuhl gestellt und band den Schnürsenkel.
»Guten Tag, Dr. Scarpetta«, sagte Janet zu mir und richtete sich hastig auf. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich vorbeigekommen bin. Ich wollte nicht stören.«
Trotz meiner Bemühungen, ihr die Befangenheit zu nehmen, reagierte sie auf mich immer so erschrocken wie ein Korporal, an dem General Patton vorbeiging. Sie war eine neue Agentin, und zum erstenmal war sie mir aufgefallen, als ich hier im vergangenen Monat als Gastdozentin einen Diavortrag über gewaltsame Todesfälle und Spurensicherung gehalten hatte. Ich spürte, daß sie mich von ihrem Stuhl ganz hinten im Raum nicht aus den Augen ließ, und ich wurde neugierig, als ich bemerkte, daß sie während der Pausen mit niemandem sprach, sondern die Treppe hinunter verschwand.
Später erfuhr ich, daß sie und Lucy befreundet waren, und vielleicht erklärte das, neben Janets Schüchternheit, ihr Verhalten mir gege nüber. Stunden im Fitneßraum sorgten für ihre gute Figur, sie hatte schulterlanges, blondes Haar und blaue, fast violette Augen. Wenn alles gutging, würde sie in zwei Monaten ihre Abschlußprüfung an der Akademie ablegen.
»Wenn Sie irgendwann einmal mit uns laufen wollen, Dr. Scarpetta, würden wir uns sehr freuen«, wiederholte Janet freundlich ihre Einladung.
»Das ist sehr nett von euch.« Ich lächelte. »Und es schmeichelt mir, daß ihr glaubt, ich könnte mit euch mithalten.«
»Selbstverständlich können Sie das.«
»Nein, das kann sie nicht.« Lucy trank ihr Gatorade aus und stellte die leere Flasche auf den Tisch. »Sie haßt Laufen. Wenn sie läuft, hat sie nur negative Gedanken.«
Nachdem sie gegangen waren, wusch ich mir im Bad das Gesicht und starrte in den Spiege l. Mein blondes Haar schien grauer als am Morgen, und auch der Schnitt war irgendwie nicht mehr gut. Ich hatte kein Makeup aufgetragen, und meine Haut sah aus, als ob sie gerade aus dem Wäschetrockner käme und gebügelt werden müßte. Lucy und Janet waren mädchenhaft, glatthäutig und intelligent, als fände die Natur nur daran Gefallen, die Jungen zu formen und auf Hochglanz zu bringen. Ich putzte mir noch einmal die Zähne, und dabei fiel mir Jane ein.
Benton Wesleys Abteilung hatte viele Male den Namen gewechselt und war jetzt dem Hostage Rescue Team zugeordnet. Die Räume lagen zwanzig Meter unter der Akademie in einem fensterlosen Areal, das einst Hoovers Bombenbunker gewesen war. Ich fand Wesley in seinem Zimmer. Er telefonierte und warf mir einen Blick zu, während er in einer dicken Akte blätterte.
Vor ihm lagen Fotos, noch von seiner letzten Besprechung, die nichts mit Gault zu tun
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