Die Tote ohne Namen
die Hälfte meiner Leute Sie bewacht.« Er lächelte nicht.
Ich ließ ihn nicht aus den Augen.
»Ich weiß über alles Bescheid, was heute vormittag in Ihrem Leichenschauhaus passiert ist.« Zorn glimmte in seinen Augen. »Sie schweben in großer Gefahr, Dr. Scarpetta. Ich bin hier, um Sie inständig darum zu bitten, die Angelegenheit sehr ernst zu nehmen.«
»Wie kommen Sie bloß darauf, daß ich sie nicht ernst nehme?« fragte ich empört.
»Fangen wir einmal damit an, daß Sie heute nachmittag nicht noch einmal in Ihr Büro hätten gehen dürfen. Zwei Polizisten sind ermordet worden, einer davon, während Sie anwesend waren.«
»Ich hatte keine andere Wahl, Colonel Tucker. Wer, glauben Sie, hat die Autopsie der beiden Männer durchgeführt?«
Er schwieg, dann fragte er. »Glauben Sie, daß Gault die Stadt verlassen hat?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, er ist noch hier.« »Wie geht es Ihnen?«
Er wollte auf etwas Bestimmtes hinaus, aber ich wußte nicht, worauf.
»Es geht mir gut. Und sobald Sie gegangen sind, werde ich mich anziehen und ebenfalls gehen.«
Er wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders.
Ich betrachtete ihn einen Augenblick lang. Er trug ein dunkelblaues Sweatshirt und knöchelhohe Turnschuhe. Ich fragte mich, ob er im Fitneßraum gewesen war, als man ihm von mir berichtet hatte. Plötzlich fiel mir ein, daß wir Nachbarn waren. Er und seine Frau lebten in Windsor Farms, nicht weit von mir entfernt.
»Marino hat mir verboten, in mein Haus zurückzukehren«, sagte ich nahezu vorwurfsvoll. »Ist Ihnen das bekannt?«
»Das ist mir bekannt.«
»Inwieweit haben Sie ihn in dieser Entscheidung unterstützt?«
»Warum glauben Sie, daß ich irgend etwas mit Marinos Entscheidung zu tun hatte?« fragte er gelassen.
»Sie und ich, wir sind Nachbarn. Wahrscheinlich fahren Sie jeden Tag an meinem Haus vorbei.«
»Das tue ich nicht. Aber ich weiß, wo Sie wohnen, Kay.«
»Bitte, nennen Sie mich nicht Kay.«
»Würden Sie mir gestatten, Sie Kay zu nennen, wenn ich weiß wäre?« fragte er leichthin. »Nein.«
Er schien nicht beleidigt. Er wußte, daß ich ihm nicht traute. Er wußte, daß ich ein bißchen Angst vor ihm und im Augenblick wahrscheinlich vor den meisten Leuten hatte. Ich wurde allmählich paranoid.
»Dr. Scarpetta.« Er stand auf. »Ich lasse Ihr Haus seit Wochen überwachen.« Er sah auf mich herunter.
»Warum?« fragte ich.
»Sheriff Brown.«
»Wovon sprechen Sie?« Mein Mund wurde trocken.
»Er war in Drogengeschäfte verwickelt, die von New York bis Miami reichen. Einige Ihrer Patienten waren auch daran beteiligt. Im Moment wissen wir von mindestens acht.«
»Die Schießereien wegen Drogen.«
Er nickte, starrte zum Fenster. »Brown hat Sie gehaßt.«
»Das war mir klar. Ich wußte allerdings nicht, warum.«
»Drücken wir es so aus: Sie haben Ihre Arbeit zu gut gemacht. Ein paar seiner Kumpel mußten Ihretwegen für lange Zeit ins Gefängnis. Wir hatten Grund zu der Befürchtung, daß er Sie aus dem Weg schaffen will.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Wie bitte? Aus welchem Grund?«
»Informanten.«
»Mehr als einer?«
»Brown hatte jemandem bereits Geld geboten, den wir sehr ernst nehmen mußten.«
Ich langte nach dem Glas mit Wasser.
»Das war Anfang des Monats. Ungefähr vor drei Wochen.« Sein Blick schweifte durch das Zimmer.
»Wen wollte er anheuern?«
»Anthony Jones.« Tucker sah mich an.
Meine Verblüffung wurde immer größer, und was er als nächstes sagte, schockierte mich.
»An Heiligabend sollte nicht Anthony Jones erschossen werden, sondern Sie.« Mir verschlug es die Sprache.
»Das ganze Szenario mit der falschen Wohnung in Whitcomb Court diente dazu, Sie in eine Falle zu locken. Aber nachdem der Sheriff durch die Küche auf den Hinterhof verschwunden war, geriet er in einen Streit mit Jones. Was dann geschah, wissen Sie selbst.« Er stand auf. »Jetzt ist auch der Sheriff tot, und Sie haben bislang, ehrlich gesagt, Glück gehabt. «
»Colonel Tucker.«
Er kam an mein Bett.
»Wußten Sie darüber Bescheid, bevor es passierte?« »Wollen Sie wissen, ob ich hellsehen kann?« Wieder lächelte er nicht.
»Ich denke, Sie wissen, wonach ich gefragt habe.«
»Wir haben Sie überwacht. Und, nein, wir haben erst nach Heiligabend herausgefunden, daß Sie an diesem Tag hätten umgebracht werden sollen. Hätten wir es vorher gewußt, hätten wir nie zugelassen, daß Sie herumfahren und Decken verteilen.«
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