Die Tote ohne Namen
sich ganz normal verhalten. Ich wollte nicht, daß Sie in die Offensive gehen und so vielleicht die Situation zum Eskalieren bringen.«
»Ich glaube nicht, daß Sie das Recht hatten, mich nicht zu informieren«, sagte ich bestimmt.
»Dr. Scarpetta.« Er starrte geradeaus. »Ehrlich gesagt, es war und ist mir vollkommen gleichgültig, was Sie denken. Mir geht es ausschließlich darum, Ihr Leben zu schützen.«
An der Mitarbeitereinfahrt zum Parkplatz standen zwei Polizisten mit halbautomatischen Gewehren Wache. Im Schneegestöber wirkten ihre Uniformen pechschwarz. Tucker hielt an und kurbelte das Fenster herunter.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles ruhig, Sir«, antwortete ein streng dreinblickender Sergeant. »Seid vorsichtig.«
»Ja, Sir. Das sind wir.«
Tucker schloß das Fenster wieder und fuhr weiter. Er parkte links von der Glastür, die in die Lobby und zu den Arrestzellen führten. Auf dem Parkplatz standen ein paar Polizeiautos und zivile Fahrzeuge. Vermutlich waren an diesem Abend wegen der Straßenglätte Verkehrsunfälle zu bearbeiten. Alle anderen Beamten waren auf der Suche nach Gault. In den Augen der Polizei hatte er sich einen neuen Rang erworben. Er war jetzt ein Polizistenmörder.
»Sie und Sheriff Santa fahren ähnliche Wagen«, sagte ich und löste den Sicherheitsgurt.
»Und da endet die Ähnlichkeit auch schon«, erwiderte Tucker und stieg aus.
Sein Büro lag auf einem langen, öden Gang, neben den Räumen des Morddezernats. Sein Zimmer war erstaunlich schlicht eingerichtet, mit unauffälligen, zweckmäßigen Möbeln. Keine schicken Lampen oder Teppiche, an den Wänden keine Fotos von ihm mit Politikern oder anderen Berühmtheiten. Ich sah keine Urkunden oder Diplome, aus denen zu schließen gewesen wäre, wo er ausgebildet worden war oder welche Auszeichnungen er erhalten hatte.
Tucker blickte auf die Uhr und führte uns in ein kleines, fensterloses Besprechungszimmer neben seinem Büro. Es war mit einem dunkelblauen Teppichboden ausgelegt und eingerichtet mit einem runden Tisch, acht Stühlen, einem Fernsehapparat und einem Videorecorder.
»Was ist mit Lucy und Janet?« fragte ich, weil ich erwartete, daß der Chief sie nicht dabei haben wollte.
»Ich weiß Bescheid über sie«, sagte er und machte es sich in einem Drehstuhl bequem. »Sie sind Agenten.«
»Ich bin keine Agentin«, korrigierte Lucy ihn respektvoll.
Er sah sie an. »Sie haben CAIN entwickelt.«
»Nicht allein.«
»CAIN spielt in diesem Fall eine Rolle, Sie können also getrost hierbleiben.«
»Sie sind online.« Sie erwiderte seinen Blick. »Sie waren der erste.«
Wir wandten uns um, als die Tür aufging und Benton Wesley hereinkam. Er trug Kordhosen und einen Pullover und sah aus, als wäre er zu erschöpft, um noch schlafen zu können.
»Benton, ich gehe davon aus, daß Sie alle Anwesenden kennen«, sagte Tucker, als ob auch er Wesley gut kannte.
»Ja.« Wesley nahm geschäftsmäßig Platz. »Ich komme zu spät, weil Sie gute Arbeit leisten.«
Tucker schien verwirrt. »Ich wurde an zwei Stellen kontrolliert.« »Ah.« Tucker war erfreut. »Wir haben alle Kräfte im Einsatz. Und das Wetter spielt mit.« Er meinte es ernst.
Marino erklärte es Lucy und Janet. »Weil es schneit, bleiben die meisten zu Hause. Je weniger Leute unterwegs sind, um so besser für uns.«
»Und wenn Gault auch nicht unterwegs ist?« fragte Lucy.
»Er muß irgendwo sein«, sagte Marino. »Die Ratte besitzt hier kein Ferienhaus.«
»Wir wissen nicht, wo er sich aufhält«, sagte Wesley. »Vielleicht kennt er jemand in der Gegend.«
»Wohin, glauben Sie, ging er heute morgen, nachdem er aus dem Leichenschauhaus verschwunden ist?« fragte Tucker Wesley.
»Ich glaube, daß er noch in der Gegend ist.« »Warum?« fragte Tucker.
Wesley sah mich an. »Ich glaube, er will sein, wo wir sind.« »Was ist mit seiner Familie?« fragte Tucker.
»Sie leben in der Nähe von Beaufort, South Carolina, wo sie vor kurzem auf einer Insel eine riesige Pekanplantage gekauft haben. Ich glaube nicht, daß Gault dorthin gehen würde.«
»Ich glaube nicht, daß wir da so sicher sein können«, sagte Tucker.
»Er hat sich von seiner Familie völlig entfremdet.«
»Nicht völlig. Von irgend woher bekommt er Geld.«
»Ja«, sagte Wesley. »Vielleicht geben sie ihm Geld, damit er fortbleibt. Sie stecken in einem Dilemma. Wenn sie ihm nicht helfen, kommt er vielleicht nach Hause. Wenn sie ihm helfen, bleibt er weg und bringt Menschen
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