Die Tote ohne Namen
Augenblick am gefährlichsten ist«, sagte sie. »Er kennt keine Grenzen. Er hat sogar den Weihnachtsmann umgebracht.«
»Er hat einen Sheriff umgebracht, der einmal im Jahr den Weihnachtsmann spielt. Und der zudem tief im Drogensumpf steckte. Vielleicht sind Drogen die Verbindung zwischen den beiden.«
»Erzähl mir von dir.«
Ich sah weg von ihr und holte noch einmal tief Luft. Endlich wurde ich ruhiger. Anna war eine der wenigen Personen in der Welt, die mir das Gefühl gaben, daß ich nicht für alles verantwortlich sein mußte. Sie war Psychiaterin. Ich kannte sie seit meinem Umzug nach Richmond. Sie hatte mir durch die Trennung von Mark geholfen und dann, als er starb. Sie hatte das Herz und die Hände einer Musikerin.
»Ich dekompensiere, wie er«, gestand ich frustriert.
»Ich muß mehr wissen.«
»Deswegen bin ich hier.« Ich sah sie wieder an. »Deswegen habe ich dieses Nachthemd an und liege in diesem Bett. Deswegen hätte ich beinahe meine Nichte erschossen. Deswegen stehen Leute vor meiner Tür und machen sich Sorgen. Andere fahren durch die Straßen und beobachten mein Haus und machen sich Sorgen um mich. Überall machen sich Leute Sorgen um mich.«
»Manchmal müssen wir um Hilfe rufen.«
»Ich will keine Hilfe«, sagte ich ungeduldig. »Ich will, daß man mich allein läßt.«
»Ich persönlich glaube, daß du eine ganze Armee brauchst. Mit diesem Mann wird einer allein nicht fertig.«
»Du bist Psychiaterin. Kannst du ihn nicht auseinandernehmen?«
»Ich behandle keine Charakterstörungen. Selbstverständlich ist er ein Soziopath.«
Sie ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah hinaus. »Ob du es glaubst oder nicht, aber es schneit immer noch. Womöglich muß ich heute nacht hier bei dir bleiben. Im Lauf der Jahre hatte ich Patienten, die sozusagen nicht von dieser Welt waren, und ich habe mich so schnell wie möglich wieder von ihnen verabschiedet.
So ist es mit Kriminellen, die zu Legenden werden. Sie gehen zu Zahnärzten, Psychiatern, Friseuren. Wir begegnen ihnen wie allen anderen Menschen auch. In Deutschland hatte ich einmal einen Patienten, der drei Frauen in der Badewanne ertränkt hatte. Das merkte ich erst nach einem Jahr.
Es war seine Masche. Er hat ihnen ein Glas Wein eingeschenkt und sie gewaschen. Als er zu ihren Füßen kam, packte er sie an den Knöcheln und zog. In diesen großen Wannen hat man keine Chance, wenn jemand einem die Füße hochhält.« Sie hielt inne. »Ich bin keine forensische Psychiaterin.«
»Ich weiß.«
»Ich habe mir oft überlegt, eine zu werden. Wußtest du das?« »Nein, das wußte ich nicht.«
»Dann will ich dir sagen, warum ich mich letztlich dagegen entschieden habe. Ich will Monstern nicht soviel Zeit widmen. Es ist schlimm genug für jemanden wie dich, die du dich um ihre Opfer kümmerst. Aber ich glaube, daß es meine Seele vergiften würde, wenn ich mit den Gaults dieser Welt in einem Zimmer sitzen müßte.« Sie hielt inne. »Ich muß dir ein schreckliches Geständnis machen.«
Sie drehte sich um und sah mich an. »Mir ist es scheißegal, warum sie es tun«, sagte sie mit einem Funkeln in den Augen. »Ich bin der Meinung, sie sollten alle gehängt werden.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen«, sagte ich.
»Aber das heißt nicht, daß mir mein Instinkt nicht einiges über ihn sagt. Mein weiblicher Instinkt.«
»Über Gault?«
»Ja. Du kennst doch meinen Kater Chester?«
»Ja. Er ist der fetteste Kater, der mir je begegnet ist.«
Sie lächelte nicht. »Er fängt eine Maus und spielt mit ihr, bis sie tot ist. Wenn er sie schließlich umgebracht hat, trägt er sie ins Haus. Er trägt sie in mein Schlafzimmer und legt sie mir aufs Kopfkissen. Es ist ein Geschenk für mich.«
»Was willst du damit sagen, Anna?« Mich schauderte.
»Ich glaube, daß der Mann eine seltsam unheimliche Beziehung zu dir aufgebaut hat. Als ob du seine Mutter wärst, und er bringt dir, was er getötet hat.«
»Das ist unvorstellbar«, sagte ich.
»Ich vermute, daß es ihn aufregt, wenn er deine Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Er will dich beeindrucken. Wenn er jemanden umbringt, dann ist das ein Geschenk an dich. Er weiß, daß du es sehr genau untersuchen und dich bemühen wirst, jeden seiner Schritte nachzuvollziehen. Wie eine Mutter, die eine Zeichnung studiert, die ihr kleiner Junge aus der Schule mit nach Hause bringt. Verstehst du, seine Verbrechen sind seine Kunstwerke.«
Mir fiel die Galerie im Shockhoe Slip ein, und ich
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