Die Tote ohne Namen
schloß.
»Ich war einkaufen.« Meine Euphorie löste sich in Nichts auf.
»Verdammt noch mal. Ich kann nicht glauben, daß du das getan hast!« schrie er mich an.
»Was soll das?« Ich verlor die Beherrschung. »Bin ich etwa Patty Hearst? Willst du mich kidnappen? In einen Schrank einsperren?«
»Geh ins Haus.« Marino war beinahe außer sich.
Ich starrte ihn eiskalt an. »Das ist mein Haus. Nicht dein Haus. Nicht Tuckers Haus. Nicht Bentons Haus. Das ist mein Haus. Und ich werde hineingehen, wann es mir paßt.«
»Gut. Und du kannst drin genauso krepieren wie sonst irgendwo.«
Ich folgte ihm in die Küche. Ich zerrte die Lebensmittel aus der Tüte und knallte sie auf den Tisch. Ich schlug Eier in eine Schüssel und warf die Schalen in den Abfall. Ich schaltete den Herd an und verquirlte die Eier mit Zwiebeln und Käse. Ich kochte Kaffee und fluchte, weil ich vergessen hatte, Milch mit niedrigem Fettgehalt zu kaufen. Ich riß vier Fetzen Papier von der Küchenrolle ab, weil ich auch keine Servietten hatte.
»Du kannst den Tisch im Wohnzimmer decken und den Kamin anmachen«, sagte ich und gab Pfeffer auf die schaumige Omelettmasse.
»Der Kamin ist seit gestern abend an.«
»Sind Lucy und Janet schon wach?« Allmählich fühlte ich mich wieder besser.
»Keine Ahnung.«
Ich rieb eine Pfanne mit Olivenöl aus. »Dann klopf an ihre Tür.«
»Sie schlafen in einem Zimmer.«
»Mein Gott, Marino.« Ich drehte mich um und sah ihn fassungslos an.
Um halb acht frühstückten wir und lasen die schneenasse Zeitung.
»Was hast du heute vor?« fragte mich Lucy, als ob wir irgendwo in den Alpen Urlaub machten. Sie saß auf einer Ottomane vor dem Kamin, die geladene Remington lag neben ihr auf dem Boden.
»Ich muß ein paar Dinge erledigen und einige Anrufe machen«, sagte ich.
Marino beobachtete mich argwöhnisch, während er seinen Kaffee schlürfte.
Ich sah ihn an. »Ich fahre in die Stadt.«
»Benton ist bereits abgereist«, sagte Marino.
Ich spürte, daß ich rot wurde.
»Ich hab versucht, ihn anzurufen, er war aber schon nicht mehr im Hotel.« Marino schaute auf die Uhr. »Das war vor ungefähr zwei Stunden. Um sechs.«
»Als ich Stadt sagte, meinte ich das Leichenschauhaus«, sagte ich gelassen.
»Du solltest nach Norden fahren, Doc, nach Quantico, und dich für eine Weile im Sicherheitsstockwerk einmieten. Im Ernst. Zumindest übers Wochenende.«
»Okay. Aber erst muß ich hier noch ein paar Dinge erledigen.«
»Dann nimm Lucy und Janet mit.«
Lucy sah zum Fenster hinaus, und Janet las immer noch in der Zeitung.
»Nein«, sagte ich.«Sie können hier bleiben, bis wir nach Quantion aufbrechen.« »Das ist keine gute Idee.«
»Marino, wenn ich nicht wegen irgendwas, von dem ich keine Ahnung habe, verhaftet bin, werde ich in weniger als einer halben Stunde das Haus verlassen und in mein Büro fahren. Und zwar allein.«
Janet legte die Zeitung weg und sagte zu Marino: »Es gibt einen Punkt, an dem man mit seinem normalen Leben weitermachen muß.«
»Hier geht es um Leben und Tod«, wies Marino sie ab.
Janet blieb gelassen. »Geht es nicht. Es geht darum, ob Sie sich wie ein Mann verhalten.« Marino blickte verständnislos drein.
»Sie fühlen sich als der große Beschützer«, fügte sie hinzu. »Sie wollen das Kommando und alles unter Kontrolle haben.«
Marino schien sich nicht zu ärgern, vermutlich weil sie nicht aggressiv war. »Haben Sie eine bessere Idee?« fragte er.
»Dr. Scarpetta kann auf sich selbst aufpassen«, sagte Janet. »Aber sie sollte nicht nachts allein hier in ihrem Haus sein.«
»Er wird nicht hierherkommen«, sagte ich. Janet stand auf und reckte sich. »Er wahrscheinlich nicht, aber vielleicht Carrie.«
Lucy wandte sich vom Fenster ab. Draußen blendete der Schnee, und überall von den Dachrinnen tropfte es.
»Warum kann ich nicht mit dir ins Büro kommen?« fragte mich meine Nichte.
»Dort gibt es nichts für dich zu tun«, sagte ich. »Du würdest dich langweilen.«
»Ich kann am Computer arbeiten.«
Später nahm ich Lucy und Janet mit in mein Büro und ließ sie dort in der Obhut von Fielding, meinem Stellvertreter. Um elf Uhr waren die Straßen matschig, die Geschäfte öffneten gerade. In wasserdichten Stiefeln und in einer langen Jacke stand ich auf dem Gehsteig und wartete, bis ich die Franklin Street überqueren konnte. Die Straßenwacht streute Salz, und es herrschte kaum Verkehr an diesem Freitag vor Silvester.
Die James-Galerie war im zweiten Stock
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