Die Tote ohne Namen
ihn.«
»Ungefähr einsfünfundsiebzig, schlank, scharfe Gesichtszüge. Seine Wangen waren etwas eingefallen. Eigentlich fand ich, daß er eine ziemlich auffällige Erscheinung war.«
»Wie sah sein Haar aus?«
»Er trug eine Baseballkappe, deswegen habe ich nicht viel davon gesehen. Aber ich hatte den Eindruck, daß es ganz schrecklich rot war. Ein Pippi-Langstrumpf-Rot. Ich weiß nicht, wer ihn unter die Finger gekriegt hat, aber er sollte die Person wegen Vernachlässigung der beruflichen Sorgfaltspflicht verklagen.«
»Und seine Augen?«
»Er trug eine sehr dunkle Brille. Könnte von Armani gewesen sein.« Irgend etwas amüsierte ihn. »Ich war unheimlich überrascht, daß Sie so einen Sohn haben. Ich hätte eher darauf getippt, daß Ihr Sohn Khakihosen und schmale Krawatten trägt und aufs MIT geht -«
»James, das ist nicht zum Spaßen«, unterbrach ich ihn.
Als ihm die Bedeutung meiner Worte klar wurde, begann er, zu strahlen und die Augen weit aufzureißen. »O mein Gott. Der Mann, von dem ich gelesen habe? Der, der...Er war in meiner Galerie?«
Ich sagte nichts.
James geriet in Ekstase. »Wissen Sie, was das heißt? Wenn bekannt wird, daß er hier eingekauft hat?«
Ich schwieg eisern.
»Das ist die beste Reklame für mein Geschäft. Von überall her werden die Leute kommen. Stadtrundfahrten werden an meiner Galerie vorbeiführen.«
»Richtig. Setzen Sie's nur gleich in die Zeitung. Und Gestörte aus der ganzen Region werden bei Ihnen Schlange stehen. Sie werden Ihre teuren Bilder und Statuen und Teppiche betatschen und Ihnen endlose Fragen stellen. Kaufen werden sie selbstverständlich nichts.«
Das brachte ihn zum Schweigen.
»Was tat er, als er hier in Ihrer Galerie war?«
»Er hat sich umgesehen. Hat gesagt, er brauchte auf die Schnelle noch ein Geschenk.«
»Wie klang seine Stimme?«
»Ruhig. Ziemlich hoch. Ich habe ihn gefragt, für wen das Geschenk sei, und er sagte, für seine Mutter. Sie sei Ärztin. Dann habe ich ihm die Nadel gezeigt. Es war ein Äskulapstab. Zwei weiße Schlangen, die sich um einen gelbgoldenen Stab winden. Die Augen der Schlangen waren Rubine. Sie war handgemacht und unglaublich toll.«
»Und die hat er für 250 Dollar gekauft?«
»Ja.« Er musterte mich, das Kinn auf eine Hand gestützt. »Die Nadel paßt perfekt zu Ihnen. Wirklich. Soll ich Ihnen noch eine anfertigen lassen?«
»Was geschah, nachdem er sich für die Nadel entschieden hatte?«
»Ich fragte ihn, ob ich sie als Geschenk verpacken sollte, was nicht der Fall war. Dann zückte er die Kreditkarte. Und ich sagte: >Tja, die Welt ist wirklich klein. Ihre Mutter arbeitet gleich hier um die Ecke.< Er hat nichts darauf gesagt. Da habe ich ihn gefragt, ob er über die Feiertage nach Hause gekommen sei, und er hat gelächelt.«
»Er hat nichts gesagt?«
»Nein. Man mußte ihm alles aus der Nase ziehen. Er war nicht unbedingt freundlich, aber höflich.« »Wissen Sie noch, wie er angezogen war?«
»Langer, schwarzer Ledermantel. Zugegürtet, deswegen weiß ich nicht, was er drunter anhatte. Aber er sah scharf aus.«
»Schuhe?«
»Ich glaube, er trug Stiefel.«
»Ist Ihnen noch irgend etwas an ihm aufgefallen?«
Er dachte eine Weile nach, sah an mir vorbei zur Tür. »Jetzt, wo Sie danach fragen, glaube ich, daß er so was wie Brandwunden an den Fingern hatte. Die fand ich etwas unheimlich.«
»Wirkte er ungepflegt?« fragte ich, denn je größer die Crack-Sucht war, um so weniger Wert legte man auf Kleidung und Sauberkeit.
»Er wirkte sauber. Aber ich bin ihm nicht sehr nahe gekommen.« »Außer der Nadel hat er nichts gekauft?« »Leider nein.«
Elmer James stützte das Kinn wieder auf die Hand und seufzte. »Wie hat er mich bloß gefunden?«
Ich ging zurück, wich dem Schneematsch aus und den Autos, die achtlos hindurchfuhren. Einmal wurde ich trotzdem vollgespritzt. Janet sah sich ein Lehrvideo über Autopsien an, und Lucy war im Computerraum. Ich fuhr mit dem Aufzug in die Leichenhalle, um nach meinen Mitarbeitern zu sehen.
Fielding arbeitete an Tisch eins. Eine junge Frau lag darauf, die man tot im Schnee vor ihrem Schlafzimmerfenster gefunden hatte. Ihre Haut war pinkfarben, und ich roch Alkohol in ihrem Blut. Ihr rechter Arm steckte in einem Gipsverband, der mit Autogrammen vollgekritzelt war.
»Wie steht's?« fragte ich.
»Sie hat 'ne Menge Alkohol im Blut«, sagte Fielding, der gerade einen Abschnitt ihrer Aorta untersuchte, »aber nicht genug, um daran gestorben zu sein. Vermutlich
Weitere Kostenlose Bücher