Die Tote ohne Namen
steckte er in einer Anzugtasche. Spiel uns die Stelle noch mal vor, Marino. Wo Gault die dunklen Kleidungsstücke vom Bett nimmt.«
Er ließ das Band bis zu dieser Stelle zurücklaufen, und obwohl wir nicht sehen konnten, daß Gault den Brief aus einer Tasche nahm, hantierte er doch eindeutig an ihren Sachen herum. Auf jeden Fall konnte er den Brief zu diesem Zeitpunkt an sich gebracht und ihn später - im Wagen oder im Leichenschauhaus - in Browns Tasche gesteckt haben.
»Du glaubst also wirklich, daß sie es war, die dir die Briefe geschickt hat?« fragte Marino skeptisch. »Ich halte es für wahrscheinlich.«
»Aber warum?« Tucker war verwirrt. »Warum sollte sie Ihnen so etwas antun, Dr. Scarpetta? Kennen Sie sie?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe sie nur ein paarmal gesehen, und unsere letzte Begegnung war eher eine Konfrontation. Aber die Briefe sahen Gault eigentlich von Anfang an nicht ähnlich.«
»Sie möchte dich gern zerstören«, sagte Wesley ruhig. »Sie möchte euch beide zerstören, Lucy und dich.«
»Aber warum?« fragte Janet.
»Weil Carrie Grethen eine Psychopathin ist«, antwortete Wesley. »Sie und Gault sind wie Zwillinge. Interessant ist, daß sie sich jetzt auch gleich anziehen. Sie sehen einander ähnlich.«
»Die Sache mit dem Brief verstehe ich trotzdem nicht«, sagte Tucker. »Warum fragt er Carrie nicht danach, anstatt ihn ihr heimlich wegzunehmen?«
»Sie fragen mich danach, wie Gaults Verstand funktioniert«, sagte Wesley. »Ja, das stimmt.« »Ich weiß es nicht.« »Aber es muß etwas bedeuten.« »Das tut es auch«, erwiderte Wesley. »Was?« fragte Tucker.
»Es bedeutet, daß sie glaubt, sie hätte eine Beziehung zu Gault. Sie meint, ihm vertrauen zu können, und sie irrt sich. Es bedeutet, daß er auch sie umbringen wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet«, sagte Wesley, als Marino das Lic ht wieder einschaltete.
Alle blinzelten. Ich sah zu Lucy, die nichts zu sagen hatte, und spürte ihre Qual an einer kleinen Geste: Sie hatte ihre Brille aufgesetzt, die sie nur brauchte, wenn sie am Computer saß.
»Offenbar arbeiten sie als Team«, sagte Marino.
»Wer ist der Kopf?« fragte Janet.
»Gault«, sagte Marino. »Deswegen fuchtelt er mit der Knarre herum, und sie spielt die Nutte.«
Tucker schob seinen Stuhl zurück. »Irgendwie haben sie Brown kennengelernt. Sie haben nicht zufällig bei ihm vorbeigeschaut.
»Hätte er Gault wiedererkannt?« fragte Lucy.
»Vermutlich nicht«, sagte Wesley.
»Ich glaube, daß sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt haben - oder zumindest Carrie hat es getan -, um an Drogen zu kommen.«
»Seine Nummer steht nicht im Telefonbuch, ist aber bei der Auskunft zu erfahren«, sagte ich.
»Auf seinem Anrufbeantworter waren keine wichtigen Nachrichten«, sagte Marino.
»Mich interessiert die Verbindung«, sagte Tucker. »Wie haben die beiden ihn kennengelernt?«
»Ich tippe auf Drogen«, sagte Wesley. »Vielleicht hat sich Gault auch wegen Dr. Scarpetta für den Sheriff interessiert. Brown hat an Heiligabend jemanden erschossen, und es wurde unablässig in den Medien darüber berichtet. Es war kein Geheimnis, daß Dr. Scarpetta zur Tatzeit am Schauplatz war und vor Gericht würde aussagen müssen.«
Ich dachte daran, was Anna Zenner über Gault und die Geschenke gesagt hatte, die er mir brachte.
»Und Gault wird das alles gewußt haben«, sagte Tucker.
»Möglich«, meinte Wesley. »Wenn wir je herausfinden, wo er wohnt, müssen wir vermutlich feststellen, daß er die Richmonder Zeitung abonniert hat.«
Tucker dachte nach und sah mich dabei an. »Wer hat dann den Polizisten in New York umgebracht? Die Frau mit dem weißen Haar?«
»Nein«, sagte ich. »Sie hätte nicht die Kraft gehabt, so zuzutreten. Es sei denn, sie hat auch einen schwarzen Gürtel in Karate.«
»Waren sie damals beide im Tunnel?« fragte Tucker. »Ich weiß nicht, ob sie dabei war«, sagte ich. »Sie waren dort.«
»Ja, aber ich habe nur eine Person gesehen.«
»Eine Person mit weißem oder mit rotem Haar?«
Ich dachte an die im Torbogen angestrahlte Gestalt. Ich erinnerte mich an den langen dunklen Mantel und das blasse Gesicht. Das Haar hatte ich nicht gesehen.
»Ich vermute, daß es Gault gewesen ist«, sagte ich.«Ich kann es nicht beweisen. Aber uns liegt nichts vor, was darauf hindeutet, daß er eine Komplizin hatte, als er Jane umbrachte.«
»Jane?« sagte Tucker.
»So nennen wir die Frau, die er im Central Park ermordet hat«, erklärte
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