Die tote Schwester - Kriminalroman
überlegte.
»Nein, er selbst niemals. Wir haben ein paar Sachen mitbekommen, indirekt. Oder wenn wir ihn sehr gefragt haben. Aber ich kann mich an keine Situation erinnern, wo er von sich aus über seine Zeit im Dritten Reich gesprochen hat. – Wissen Sie, was es für ein komisches Gefühl ist, wenn man weiß, der eigene Vater, das Fleisch und Blut, wo man herkommt, ging bei den höchsten Nazis ein und aus?«
»Nein«, gab Zbigniew zu.
»Man kommt sich manchmal vor, diese Haut, dies hier«, sie umfasste dabei ihren eigenen Arm, schüttelte ihn, »das stammt irgendwie von etwas ab, das nicht sein durfte. Ich meine, es ist natürlich Unsinn, aber man fragt sich, wie hätte ich mich damals in jener Zeit verhalten? Mein Vater hat kaum etwas erzählt, aber ich habe natürlich viel über das Dritte Reich gelesen, als ich in der Pubertät war und begreifen wollte, wer oder was mein Vater war.«
»Was Ihr Vater war, ist ja nicht so ganz klar. Er hat ja wohl auch viel Gutes getan.«
»Ich glaube, er hat das mit den Juden nie verstanden. Vielleicht war er ein überzeugter Nazi, ich weiß es nicht, vielleicht wollte er die deutsche Weltherrschaft. Aber das mit den Juden hat er nie verstanden. Er hat nie begriffen, warum ein Volk ausgerottet werden soll. Ein Volk, dem einige seiner besten Freunde angehörten.«
»Wissen Sie, was er damals alles konkret gemacht hat?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Delia nach einem Moment leise. »Nicht wirklich.« Sie sog wieder an der Zigarette, und Zbigniew bekam das Gefühl, dass er mit völlig falschen Erwartungen in das Gespräch gegangen war.
Nicht Delia Johannsen konnte ihm etwas über ihren Vater erzählen, sondern er ihr.
»Ich weiß konkret«, sagte er, »dass er einigen Juden geholfen hat. Wenn Sie das interessiert, können Sie sich mal mit einem Mitarbeiter vom NS -Dokumentationszentrum in Köln unterhalten. Julius Mendelstein, ein sehr hilfsbereiter älterer Herr. Vielleicht erinnern Sie sich sogar, Sie haben mit ihm telefoniert, als Ihr Vater starb. Wegen der Todesanzeige.«
Delia überlegte.
»Nein, tut mir leid. Das ist eine Ewigkeit her.«
»Ihr Vater hat auf jeden Fall dafür gesorgt, dass Samuel Weissberg fliehen und Eva Weissberg heimlich geboren werden konnte, was eigentlich für ein Kind jüdischer Herkunft 1943 völlig ausgeschlossen war. Er hat einen Unterschlupf auf einem Bauernhof für Eva gefunden. Was wissen Sie darüber?«
»Ich weiß nur, dass Vater und Samuel die Schwester nach dem Krieg gesucht haben, sie waren in den Sechzigern ja auch hier in Deutschland. Aber es hat alles nichts gebracht.«
»Wie kam Samuels Schwester auf den Bauernhof? Also konkret? Hat Ihr Vater sie hingebracht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hat Ihr Vater denn über Eva Weissberg erzählt?«
»Das war alles lange vor meiner Zeit. Ich meine, er hat das mit Samuel gemacht. Samuel und seinen Verwandten, seinem Onkel. Am Kriegsende war Samuel – wie alt war er, er war ja selbst noch ein Kind!«
Zbigniew rechnete. Darüber hatte er noch niemals nachgedacht.
»Er müsste sechs am Ende des Kriegs gewesen sein.«
»Genau. Die Verwandten hatten damals nach dem Krieg einen Suchantrag eingereicht, soweit ich weiß. Als dann die Nachricht über den Tod der Eltern kam, waren erst mal alle gelähmt.«
»Nach dem Krieg? Die Eltern sind doch schon 1943 gestorben.«
»Ja. Aber soweit ich weiß, hat die Verwandtschaft es erst nachher von unseren Truppen erfahren.«
Den amerikanischen Befreiern. Natürlich, erst dann war die Sache aufgerollt worden. Hatte Samuel nicht bereits so etwas angedeutet?
Es war eine Ewigkeit her, dass er und Lena in New York waren. Es war in einem anderen Leben.
»Und dann ging man davon aus, dass Eva auch tot war?«
»Nun ja, es gab wohl immer eine Hoffnung, aber – ob sie damals wirklich daran geglaubt haben, ach, ich weiß es nicht. Vielleicht war es ihnen auch damals schon klar.«
»Wie kam eigentlich der Kontakt zwischen Samuel und Ihrem Vater zustande? Wann ist Ihr Vater in die USA gekommen?«
»Mein Vater ist 1949 eingewandert. Er hatte schon vorher bei der Army gearbeitet.«
»Als Arzt?«
»Nein, als Fotograf. Die Besatzer waren wohl sehr zufrieden mit ihm.«
Die Besatzer, nicht die Befreier.
»Und so konnte er relativ schnell in die USA auswandern.«
»Genau. Und dann, in New York, stand irgendwann ein kleiner Knirps bei ihm im Laden. So erzählte er es immer. Die Galerie, das war damals noch ein ganz primitiver Raum, es gab dort
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