Die tote Schwester - Kriminalroman
von Mallorcaflügen erprobte deutsche Touristen klatschten Beifall. Zbigniew verließ das Geschoss mit wackeligen Beinen.
Die Rakete.
Er war irgendwie glücklich.
Seine Angst war wie weggefegt.
Er hatte es geschafft, auf zweihundertsechzig Meter Höhe.
Lena hatte ihn angeblickt, lächelnd, schweigend, als ob sie stolz auf ihn sei.
Nun waren die Menschen unten klein, und auf der offenen Aussichtsplattform fegte der Wind um seinen Kopf.
»Gehen wir endlich ganz hoch?«, fragte Lena neben ihm.
In der Mitte der Plattform stand ein kleiner Pavillon mit einem Flachdach, das über eine weitere Treppe betreten werden konnte. Der Aufstieg schien eine sichere Angelegenheit zu sein; Zbigniew nickte. Lena ging beschwingt voran, er folgte ihr vorsichtig.
Das oberste Dach des Rockefeller Centers schien an die Wolken heranzureichen, nur eine riesenhafte Antenne streckte sich noch über sie. Von hier aus war der Blick in alle Himmelsrichtungen offen. Das »Top of the Rock«, wie es in den Reiseführern bezeichnet wurde, versprach nicht zu viel. Es war ein atemberaubendes Gefühl – New York zu allen Seiten, rundherum, neben ihnen, tief unter ihnen. Nur wenige Wolkenkratzer waren höher als das Rockefeller Center; Zbigniew machte in der Nähe das Chrysler Building und das Empire State Building aus. Man sah über Hudson und East River hinweg in die Landschaft, die in der Ferne in ein diffuses Grau verschwamm und mit dem ebenso grauen Himmel eins wurde, sodass eine Horizontlinie nicht auszumachen war.
New York, der Traum war verwirklicht, einmal im Leben in New York, jetzt und hier war es erreicht, nirgendwo so sehr wie auf dem Dach dieses Wolkenkratzers.
Zbigniew und Lena standen da, gebannt von der atemberaubenden Kulisse. Es war, als ob die Erde um sie herum stillstand. Sogar die winzigen weißen Kutschen, die auf den Wegen des Central Parks mit glücklichen Menschen ihre Runden fuhren, standen still.
Er hatte das Gefühl, er sollte Lena etwas sagen, doch er tat es nicht.
Stattdessen legte er seine Arme sanft um sie. Lena ließ sich nach hinten in ihn hineinfallen, er drückte sie fester an sich. Sie drehte ihren Kopf und sah ihm in die Augen, erwartungsfreudig. Statt etwas zu sagen, küsste er sie nun, sie küssten sich lange und leidenschaftlich, und für einige Minuten kam es Zbigniew so vor, als ob dies der Moment reinen Glücks war, der Moment, den jeder Mensch nur ein einziges Mal im Leben erlebt, ein Moment, der niemals wiederkehren würde.
Zbigniew hatte Lena zu ihrem achtzehnten Geburtstag eingeladen, mit ihm in den Big Apple zu fahren. Es war keine reine Liebestat gewesen, nein, Zbigniew hatte das Gefühl, es sei an der Zeit, auch sich selbst ein wenig zu belohnen. Zu entschädigen, genauer gesagt. Da er noch nie an die amerikanische Ostküste gereist war, schien New York das ideale Ziel zu sein. Einmal im Leben sollte man ohnehin da gewesen sein, warum also nicht zu diesem besonderen Geburtstag der Freundin. Lena dürstete schon lange nach mehr gemeinsamer Zeit mit ihm; das Beziehungsversteckspiel in Köln hatte noch nicht aufgehört. Zwar hatte er inzwischen Lenas Eltern kennengelernt, aber seine Kollegen bei der Kriminalpolizei wussten immer noch nichts von der zwanzig Jahre jüngeren Frau an seiner Seite.
Im Gegensatz zum Leben in der Heimat konnte Zbigniew mit Lena hier in New York ein Gefühl der Freiheit genießen. Eine unbeschwerte Ausgelassenheit leben, die in Köln nie möglich war.
Ohnehin sahen die Frauen an den Seiten der New Yorker allesamt zwanzig Jahre jünger als ihre Partner aus, egal ob sie es waren oder nicht. Und die Männer an den Seiten der New Yorkerinnen auch.
In New York war es egal, hier beachtete sie niemand.
Lenas Eltern hatten sich seltsam neutral verhalten, als es nach über einem Jahr heimlicher Beziehung mit Lena endlich zu einem ersten Besuch bei ihnen gekommen war. Sie waren freundlich gewesen, aber distanziert. Vor allem Lenas Vater, der nur ein paar Jahre älter war als Zbigniew, schien ihn als Geliebten seiner Tochter nicht so recht akzeptieren zu können. Zbigniew selbst kam es merkwürdig vor, mit den Eltern am Tisch zu sitzen. Lange hatte er sich vor dem Vorstellungstermin gedrückt, um schließlich festzustellen, dass Lenas Eltern die Situation trotz aller oberflächlicher Freundlichkeit ebenso unangenehm war wie ihm selbst. Lena meinte, er sollte sich davon nicht beeindrucken lassen, ihre Eltern wären immer so. Zbigniew fragte sich, wie seine eigene Mutter es
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