Die Tote von Buckingham Palace
Prinzessin ging er durch die breiten Gänge in einen anderen Gebäudeflügel. Sie wechselte einige Worte mit einem Lakaien und dann mit einem weiteren. Schließlich folgte er ihr mit zwei livrierten Lakaien und einer Hofdame in Königin Viktorias Privatgemächer.
Die Räume waren in sonderbarer Weise genau so, wie Pitt das erwartet hatte: allenthalben zu viele Gemälde, Fotografien und Nippes sowie herrlich geschnitzte übergroße Möbel. Das Sonnenlicht fiel schräg durch Fenster mit schweren Vorhängen und bildete bunte Muster auf den Teppichen.
»Sehen sie – dort«, sagte die Prinzessin und wies auf einen verzierten Kaminsims. Pitt sah einen herrlichen Tafelaufsatz aus Limoges-Porzellan mit goldenen Blättern um die Ränder, goldenem Rankenwerk, Girlanden aus winzigen rosa Rosen und in der Mitte das Bild eines Liebespaares auf einer Gartenbank. Nicht der Himmel war tiefblau, sondern der Mantel des Mannes und der bis zum Boden reichende Umhang der Frau.
Mit fragenden Augen wandte sich die Prinzessin zu Pitt um.
»Gab es dazu ein Pendant?«, erkundigte er sich und kam sich töricht vor.
»Nein«, antwortete die Hofdame, vielleicht, weil sie fürchtete, die Prinzessin habe die Frage nicht gehört.
Pitt ging umher und tat so, als suche er nach einer Stelle, von der man einen weiteren Tafelaufsatz hätte nehmen können, im tiefsten Inneren fest davon überzeugt, keine zu finden. Er wusste nicht, was er denken sollte, fühlte sich ein zweites Mal geschlagen. Er sah auf das Bett. Ob auf ihm Laken mit dem Monogramm der Königin lagen, wie jene, die Gracie blutbefleckt und zusammengeknüllt in der Waschküche gefunden hatte? Er wagte
nicht hinzusehen. Es hätte keine vernünftige Erklärung dafür gegeben. Was für eine Rolle spielte das schon?
Er beugte sich vor und fasste nach den schweren Vorhängen. Der Stoff bewegte sich kaum spürbar und gab den Blick auf einen dunklen Fleck auf dem Teppich frei. Er bückte sich und legte eine Fingerspitze darauf. Er war trocken. Er befeuchtete den Finger und fasste erneut hin. Diesmal verfärbte er sich bräunlichrötlich. Es durchfuhr Pitt wie ein elektrischer Schlag. Das musste Blut sein. Er folgte mit den Augen der Fußleiste bis zum Bett und erkannte eine Fuge an einer Stelle, an der es keinen Grund für eine Fuge zu geben schien. Er richtete sich auf und trat rasch auf die gegenüberliegende Seite. Dort lief die Fußleiste ohne Fuge weiter. Man hatte ein Stück herausgenommen und ersetzt. Ob auch dort Blut gewesen war? Von einem Unfall? Einer Krankheit?
Da das Blut noch nicht vollständig getrocknet war, konnte es höchstens einige Tage alt sein. Mit anderen Worten … es musste während der Abwesenheit der Königin dort hingelangt sein.
Er ging zurück zu der Stelle, wo der Tafelaufsatz stand, und bückte sich unter dem Kaminsims. In den Ritzen zwischen den herrlichen alten Dielen, die schon seit etlichen Jahren auf Hochglanz poliert wurden, erkannte er feine weiße Krümel, wie von zerbrochenem Porzellan. Irgendetwas war hier in Stücke gegangen.
Bedächtig wandte er sich um und musterte den Raum noch einmal gründlich. Alle sahen gespannt zu ihm her: die Prinzessin, die Hofdame, die beiden Lakaien. Mit entsetzlicher Gewissheit begriff er, was dort geschehen sein musste. Es war die Stelle, an der man Sadie ermordet hatte, warum auch immer.
Danach hatte man sie aus naheliegenden Gründen zur Wäschekammer gebracht. Welche Rolle aber spielte dann das Blut in den Portweinflaschen? Sollte es den Anschein erwecken, man habe sie in der Wäschekammer ermordet, damit niemand an anderer Stelle suchte? Oder hatte jemand in ihnen Tierblut aus der Küche nach oben gebracht? Doch warum?
Es waren drei volle Flaschen gewesen. So viel Blut hatte man in der Wäschekammer nicht sehen können. Wo war der Rest? Hatte man ihn in den Ausguss geschüttet?
Seine Gedanken jagten sich.
Wer steckte dahinter? Mit Sicherheit nicht der Kronprinz. Er hatte noch unter den Folgen eines üblen Katers gelitten, als ihn Pitt am Morgen nach der Tat gesehen hatte. Die Antwort lag auf der Hand: Cahoon Dunkeld. Der Prinz musste in einer unvorstellbar entsetzlichen Szene aufgewacht sein: eine Tote lag neben ihm, und das im Bett seiner Mutter, der Königin. Wahrscheinlich hatte er fast den Verstand verloren, als ihm das bewusst wurde, und nach Dunkeld geschickt. Dieser war sogleich gekommen und hatte getan, was er konnte, um den Schaden zu begrenzen. Nicht nur hatte er den Fall vertuscht, sondern
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