Die Tote von Buckingham Palace
Kap-Kairo-Bahn zu tun hatte und womöglich gar zu diplomatischen Verwicklungen führen konnte. Er hatte nicht den geringsten Hinweis auf das Motiv, ahnte nicht, ob es dabei um Habgier ging, die auf die zu erwartenden Gewinne abzielte, um übermäßigen Ehrgeiz oder einfach darum, dass einer der Männer geisteskrank war und die Tat rein zufällig dort und zu diesem Zeitpunkt verübt worden war.
Unabhängig von all diesen Erwägungen, musste er so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Zwar war Carlisle der Letzte, der ihm etwas darüber hätte sagen können, doch war er zugleich jemand, auf dessen Verschwiegenheit er sich am ehesten verlassen konnte.
»Der Kronprinz interessiert sich für das Projekt«, sagte er, bemüht, sich so kurz wie möglich zu fassen. »Im Augenblick halten sich vier Männer mitsamt ihren Gattinnen als seine persönlichen
Gäste im Palast auf: Cahoon Dunkeld, Hamilton Quase, Julius Sorokine und Simnel Marquand.«
»Wollen die sich um das Bahnprojekt bemühen?«, fragte Carlisle und verlangsamte den Schritt.
»Ja. Und sie buhlen um die Gunst des Prinzen, damit er sie anderen Interessenten vorzieht.« Narraway passte sich seinem Tempo an.
»Kann ich mir denken. Was aber hat der Staatsschutz damit zu tun? Misstrauen Sie einem der Herren?«
Narraway lächelte. »Und wie«, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme. »Nur weiß ich noch nicht, wem. Vorgestern Abend haben die vier ziemlich ausschweifend gefeiert und sich zu ihrer Unterhaltung drei Prostituierte in den Buckingham-Palast geholt, wo sie sich als Gäste des Kronprinzen aufhalten. Der Gastgeber hat sich übrigens nach Kräften an den Vergnügungen beteiligt. Am nächsten Morgen hat man in einer Wäschekammer eine der Frauen mit durchschnittener Kehle und aufgeschlitztem Unterleib entdeckt. Es steht bereits fest, dass vom Personal niemand als Täter infrage kommt. Die Möglichkeit, jemand könnte von außen eingedrungen sein, darf man angesichts der Sicherheitsvorkehrungen im Palast wohl ausschließen.«
Carlisle war vor Verblüffung so unvermittelt stehen geblieben, dass er fast gestrauchelt wäre. »Was sagen Sie da?« Er schloss die Augen und öffnete sie rasch wieder.
»Sie haben durchaus richtig gehört«, sagte Narraway. »Dunkeld kann es nicht gewesen sein. Er hat ein Alibi. Also kommt als Täter nur einer der drei anderen infrage. Ich muss unbedingt in Erfahrung bringen, wer, und zwar so schnell und zugleich so unauffällig wie möglich.«
»Setzen Sie Thomas Pitt darauf an«, sagte Carlisle, wobei seine Augen spöttisch blitzten. »Wenn es darum geht, einen verwickelten Mord in höheren Kreisen aufzuklären, wüsste ich keinen Besseren als ihn.« Er hatte gute Gründe dafür, das zu sagen. Narraway hatte davon gehört, sich aber nie nach Einzelheiten erkundigt, und jetzt wäre nicht einmal dann der richtige Augenblick
dazu gewesen, wenn Carlisle bereit gewesen wäre, es ihm zu sagen.
»Er ist schon an Ort und Stelle«, gab Narraway knapp zurück. »Was können Sie mir über die weniger offensichtlichen Aspekte des Projekts einer Bahnverbindung vom Kap nach Kairo sagen?«
Überrascht fragte Carlisle: »Glauben Sie, dass es in den Fall mit hineinspielt? Geht es da nicht einfach … um einen Geistesgestörten?«
»Wenn ich das wüsste! Ort und Zeitpunkt scheinen mir nicht so recht dazu zu passen.«
»Da haben Sie wohl recht. Andererseits fragt ein Geistesgestörter vermutlich nicht danach, was anderen passend oder unpassend erscheint.«
Sie gingen jetzt im Schatten der Bäume über den Kiesweg. Der Geruch nach frisch gemähtem Gras lag in der Luft. Aus der Ferne hörten sie Vögel singen. Ein Kind warf Stöckchen, denen ein junger Spaniel beglückt nachjagte.
»Ich denke mir, dass diese Art von Irresein nur dann aufflammt, wenn irgendein bestimmtes Ereignis den zündenden Funken liefert«, gab Narraway zu bedenken. »Irgendeine alte Leidenschaft ruft eine zwanghafte Handlung, einen plötzlichen Wutausbruch hervor, weil sich jemand durch Spott oder Zurücksetzung gekränkt fühlt.«
»Ich weiß kaum etwas über diese Männer«, sagte Carlisle. Es klang, als bitte er um Entschuldigung. »Eigentlich nicht mehr, als allgemein bekannt ist.«
»Man könnte sich auch ein gänzlich anderes Motiv vorstellen«, sagte Narraway. »Dahinter könnte kalte Berechnung stecken, eine lange schwelende bittere Feindschaft. Jemand will die Gespräche torpedieren. Wer außer diesen Männern wäre gegebenenfalls noch an diesem
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