Die Tote von Buckingham Palace
dass sich Pitt im Buckingham-Palast befand, kam ihm sonderbar vor. Sicherlich würde er auf gesellschaftlicher Ebene Schnitzer begehen und sich davon peinlich berührt fühlen, und vermutlich würde er mit seinen unerschütterlichen Moralvorstellungen Anstoß an so manchem nehmen, was dort vor sich ging. Wenn er im weiteren Verlauf der Arbeit an diesem Fall mehr über den Prinzen erfuhr, als er bereits wusste, würde er zweifellos so manche seiner Illusionen aufgeben müssen und vielleicht auch in seiner Treue zur Krone erschüttert werden. Doch Pitt wusste, woran er glaubte und warum – auch das war etwas, worum ihn Narraway beneidete.
Er schob diese Gedanken beiseite und trat an eine Stelle, wo man ihn sehen konnte.
»Guten Tag, Victor«, sagte Lady Vespasia mit einem Anflug von Interesse. »Emily, erinnerst du dich an Mr Narraway? Meine Großnichte, Mrs Radley.«
»Guten Tag, Mr Narraway«, sagte Emily ruhig. Sie war nicht wirklich schön, was aber durch ihre Lebhaftigkeit mehr als wettgemacht wurde. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
»Guten Tag, Mrs Radley«, antwortete er. »Sehr gut, danke. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie störe. Bedauerlicherweise muss ich mich in einer vertraulichen Angelegenheit um Hilfe an Lady Vespasia wenden. Ich hätte ein so ungehöriges Verhalten unbedingt vermieden, wenn mir das möglich gewesen wäre.«
Emily zögerte, sah aber trotz der verzehrenden Neugier in ihren Augen ein, dass ihr keine Wahl blieb. »Gewiss doch, gern«,
sagte sie daher mit strahlendem Lächeln. Darauf wandte sie sich Lady Vespasia zu. »Dann bis … sagen wir, in einer Stunde in der Kutsche?« Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie mit rauschenden Röcken.
Mit den Worten »Die Sache muss ja sehr dringend sein« nahm Lady Vespasia seinen Arm, und sie schlenderten in den nächsten Saal. »Hat es mit Thomas zu tun?«
Er hörte die Besorgnis in ihrer Stimme. »Ihm geht es gut«, sagte er rasch. »Aber wir arbeiten an einem so heiklen Fall, dass ich gar nicht davon zu sprechen wage, außer dass es mit dem Kronprinzen zu tun hat. Ich brauche Ihre Unterstützung.«
»Die sichere ich Ihnen zu. Was kann ich tun?«, fragte sie mit unveränderter Stimme.
Ihm tat es im Voraus leid, dass er lediglich Informationen von ihr haben wollte, was sie sicher enttäuschen würde. Sie hatte sich schon früher mit großem Wagemut in mehreren Fällen bewährt und dabei ein bemerkenswertes Gespür an den Tag gelegt. »Ich muss über bestimmte Menschen mehr erfahren, als das auf die übliche Weise und mit der gebotenen Eile und Diskretion möglich ist«, vertraute er ihr an.
»Ich verstehe.« Sie sah beiseite, damit er ihre silbergrauen Augen nicht sehen und nicht erkennen konnte, was darin zu lesen war.
»Es geht um einen Mordfall«, teilte er ihr mit, als sie den nächsten Saal betraten. »Das Opfer ist eine Prostituierte. Wenn bekannt würde, wo man sie aufgefunden hat, würde ihre bloße Anwesenheit dort einen Skandal hervorrufen, ganz zu schweigen davon, dass sie als über und über mit Blut bedeckte Leiche in einer Wäschekammer lag.«
Lady Vespasia hob die silbergrauen Brauen. »Tatsächlich? Wie bedauerlich. Und wen verdächtigen Sie?«
»Der Täter kann nur einer von drei Männern sein.« Er nannte die Namen.
»Das überrascht mich«, gestand sie.
»Halten Sie keinen von ihnen der Tat für fähig?«
Sie lächelte. »Ich halte keinen von ihnen für töricht genug, so etwas zu tun. Das ist keineswegs dasselbe.«
»Was können Sie mir über die drei sagen? Von mir aus darf es gern Klatsch, eine Skandalgeschichte oder sonst etwas sein, solange es für den Fall von Interesse ist.«
»Sie meinen von Bedeutung«, korrigierte sie ihn. »Ich bin durchaus imstande, zwischen den Zeilen zu lesen, Victor.«
Er freute sich, dass sie seinen Vornamen verwendete, und fand es zugleich lachhaft, dass ihm das so wichtig schien. »Was also können Sie mir sagen?«, fragte er.
»Es würde mich sehr wundern, wenn Julius Sorokine der Täter wäre«, begann sie nachdenklich. Sie sprach mit so leiser Stimme, dass ihre Worte kaum zu hören waren. »Ein junger Mann, der vielleicht besser aussieht, als ihm gut tut. Vieles ist ihm zugeflogen, aber ich glaube, er ist nicht glücklich. Richtig angestrengt hat er sich noch nie, weil er das nicht nötig hatte. Er besitzt weder das Temperament noch die Art von Eitelkeit, die Menschen dazu veranlasst aufzubegehren, wenn man ihnen etwas verweigert. Er ist zu träge, zu sehr
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