Die Tote von Buckingham Palace
was wir hier alles erfahren«, sagte sie mit der Andeutung eines Lächelns,
in dem eine gewisse Belustigung lag. »Wir bekommen mehr mit, als Sie vermuten.«
Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und hielt es für unhöflich, noch einmal in das Sandwich zu beißen.
Sie nippte an ihrem Tee. »Sie werden sehen, dass den Damen die zwischen den Herren bestehenden Spannungen und Rivalitäten ebenso wenig verborgen geblieben sind wie deren Vorlieben und Abneigungen.«
»Ich werde sie fragen, Ma’am«, versprach er, auch wenn er das insgeheim für sinnlos hielt.
»Ich nehme an, Sie vermuten, dass sie zu ihren Männern halten und Ihnen daher nichts sagen werden, was Ihnen in dieser unangenehmen Sache weiterhelfen könnte«, fuhr sie fort.
Er holte tief Luft und verschluckte sich dabei am letzten Bissen, sodass er husten musste und ihm die Augen tränten. Er hatte den Eindruck, sich vollständig unmöglich zu machen. Die ganze Situation war eine Art Albtraum.
»Trinken Sie doch etwas Tee, Mr Pitt«, sagte die Prinzessin freundlich. »Es geht sicher gleich vorüber. Sie dürfen es keinesfalls dadurch schlimmer machen, dass Sie jetzt etwas sagen. Ich verstehe durchaus. Übrigens sind auch mir gewisse Einzelheiten aufgefallen, die Ihnen unter Umständen weiterhelfen könnten.«
Er hielt das für nahezu unmöglich. Was konnte sie schon über Prostituierte oder über gewalttätige Anwandlungen von Männern wissen? Aber nicht nur die Höflichkeit verbot ihm, solche Gedanken zu äußern, er fürchtete auch einen erneuten Erstickungsanfall.
Sie lächelte abwesend, als stehe sie bereits im Begriff, ihre Gedanken zu ordnen. »Bei Mrs Sorokine ist mir eine gewisse unbändige Lebensfreude aufgefallen, von der ihr Mann nicht das Geringste zu ahnen scheint«, sagte sie mit verblüffender Offenheit. »Jedenfalls nehme ich nicht an, dass er den Gleichgültigen nur spielt, denn ich habe keinerlei Anzeichen dafür bemerkt. Sofern er überhaupt jemanden unauffällig ansieht, ist das Mrs Dunkeld, seine Schwiegermutter.«
Pitt räusperte sich. »Sie besitzen eine ungewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe, Ma’am, wenn ich das sagen darf.«
»Ich habe viel Zeit«, gab sie mit Bedauern in der Stimme zurück, wobei sich der gleichmütige Ausdruck ihres Gesichts kaum änderte. »Mit Schwerhörigen sprechen Menschen nicht besonders viel, weil es ihnen zu mühselig ist, sich verständlich zu machen. Nur wenige machen sich klar, dass man vieles von dem Gesagten versteht, wenn man das Gesicht seines Gegenübers aufmerksam betrachtet, während dieser spricht. Überraschend widersprechen sich die Aussagen von Augen und Mund der Menschen.«
Damit hatte sie recht. Auf eben diese Weise erkannte Pitt selbst häufig, dass jemand die Unwahrheit sagte, selbst in Fällen, in denen er die Fakten noch nicht kannte.
»Und was haben Sie bei den anderen beobachtet, Ma’am?«, fragte er.
Mit leicht gerunzelter Stirn sagte sie: »Wie bitte?«
Er wiederholte seine Frage langsamer und etwas lauter. Er merkte, wie er dabei vor Verlegenheit errötete. Es kam ihm vor, als verhalte er sich ein wenig herablassend, obwohl das nicht seine Absicht war.
»Ach so.« Diesmal hatte sie verstanden. »Mrs Marquand ist zutiefst unglücklich. Das lässt sich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, der zwischen Zorn und Trübsal wechselt. Mrs Quase wiederum hat Angst, vermutlich um ihren Gatten. Allerdings ist mir der Grund dafür nicht bekannt. Ihre Hände spielen immerzu mit irgendetwas herum.«
»Und was ist mit Mrs Dunkeld?«, fragte er.
»Mrs Dunkeld wiederum«, erklärte sie, als habe sie ihn nicht gehört und spreche einfach weiter, »hat Angst vor ihrem Mann. Das ist etwas gänzlich anderes. Sie sieht nie zu Mr Sorokine hin. Vielleicht fürchtet sie, ihre Augen könnten sie verraten.«
»Sie verfügen wirklich über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, Ma’am«, sagte er mit aufrichtiger Bewunderung.
»Trinken Sie doch Ihren Tee.« Sie wies auf das Tablett. »Kalt schmeckt er nicht annähernd so gut. Und probieren Sie auch das
Teegebäck. Seien Sie versichert, dass das keineswegs unhöflich ist. Ich habe es eigens für Sie kommen lassen und wäre enttäuscht, wenn Sie es sich nicht schmecken ließen.«
Er wagte es, sie anzulächeln. »Danke, Ma’am.«
Sie erwiderte sein Lächeln mit einer bezaubernden Geste. »Bestimmt wäre ich für die Aufgabe eines Kriminalisten besser geeignet, als Sie glauben. Mr Dunkeld kann seinen Schwiegersohn, Mr Sorokine,
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