Die Tote von Buckingham Palace
nachdenklich und schob die Hände tiefer in die Taschen. »Wenn sich unser Land einen so bedeutenden Vorteil verschaffte, würde das zwangsläufig negative Auswirkungen auf das Deutsche Reich, Belgien und Frankreich haben. Doch diesen Vorteil haben wir bereits, die Verwirklichung des Bahnprojekts würde ihn lediglich verstärken. Werfen Sie doch einmal einen Blick auf die Weltkarte. Wenn nun einer der von Ihnen genannten Männer finanzielle Interessen hätte, von denen wir nichts wissen, oder eine fremde Macht ihn bestochen hat? Das liefe zwar mehr oder weniger auf Landesverrat hinaus, doch vermag ich da keinen Zusammenhang mit der Ermordung einer Prostituierten zu sehen. Sie etwa?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Narraway zu. Je länger er über die Sache nachdachte, desto mehr neigte er der Ansicht zu, dass einer der Männer unter einem Irresein litt, das durch irgendeine übermäßige Belastung zum Ausbruch gekommen war. Wäre es doch nur an irgendeinem anderen Ort geschehen! Dann wäre es Aufgabe der Hauptstadtpolizei, sich darum zu kümmern, und der Staatsschutz hätte nichts damit zu tun. »All das ergibt keinerlei Sinn«, sagte er. »Welche Kenntnisse haben Sie vom Privatleben dieser Männer?«
»So gut wie keine«, erklärte Carlisle und verzog das Gesicht. »Jedenfalls keine, die Ihnen in dieser Sache dienlich sein könnten. Was für eine widerliche Geschichte! Als wäre der Ruf des Prinzen nicht schon hinlänglich angeschlagen!«
»Wer könnte etwas über die Männer wissen?«, ließ Narraway nicht locker. »Und wer würde mir wahrheitsgemäß Auskunft geben, ohne Fragen zu stellen?«
»Lady Vespasia«, sagte Carlisle, ohne zu zögern.
Narraway lächelte. »Damit haben Sie bestimmt recht. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«
Carlisle nickte. Bewusst bat er Narraway nicht, ihn auf dem
Laufenden zu halten – er war sicher, dass er rechtzeitig erfahren würde, was bei der Sache herauskam. Die beiden Männer wandten sich um und kehrten gemeinsam durch den bunten Schatten der Bäume in die Great George Street zurück.
Narraway begab sich für eine kurze Weile in sein Büro und gab dort Anweisungen mit Bezug auf andere Aufgaben. Da Pitt um möglichst ausführliche Informationen über den Hintergrund der Ermordeten gebeten hatte, setzte er zwei Männer darauf an und machte sich dann auf den Weg zu Lady Vespasia Cumming Gould. Es dauerte fast vier Stunden, bis er sie fand. Sie war nicht zu Hause, doch da ihr Mädchen Narraway kannte, teilte sie ihm mit, dass ihre Herrin mit einer ihrer Großnichten zum Mittagessen ausgegangen sei; anschließend wollten die beiden eine Gemäldeausstellung in der Nationalgalerie besuchen. Also hatte sich Narraway dorthin aufgemacht, war von einem Saal zum anderen gezogen und hatte jede modisch gekleidete Dame, die größer war als der Durchschnitt und sich besonders aufrecht hielt, genauer in Augenschein genommen.
In dem Augenblick, als er sie in ihrem schlichten, aber exquisit geschnittenen Ausgehkostüm aus blaugrauer Seide entdeckte, kam er sich töricht vor, andere länger als eine Sekunde angesehen zu haben. Sie, einst die berühmteste Schönheit ihrer Zeit, wirkte mit ihrer Anmut und ihrem Feuer noch im hohen Alter beeindruckend. Nicht nur nahm sie nach wie vor geradezu leidenschaftlich am Leben teil, sie war auch voll Wissbegier und besaß überdies ein bedeutendes Maß an Zivilcourage und Weisheit. Die hochgebogene Krempe ihres Hutes, der etwas kleiner war, als es die jüngste Mode verlangte, ließ ihr Gesicht deutlich erkennen. Der feine Halbschleier betonte dessen Ebenmaß und den geheimnisvollen Blick ihrer Augen eher, als dass er sie verbarg.
Begleitet wurde sie von einer Frau Anfang dreißig mit makellos hellem Teint. An einer weniger lebhaften Frau hätte deren blassgrünes Kleid wohl langweilig gewirkt – ihr hingegen stand es glänzend. Als Narraway die beiden entdeckte, beschrieb sie Lady
Vespasia gerade lachend etwas, was sie erheiternd fand. Da Narraway in ihrem Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Pitts Frau Charlotte zu erkennen meinte, vor allem, was den Schwung der Brauen und die Linie ihrer Wangen anging, nahm er an, es könne sich um deren Schwester handeln. Einen Augenblick lang dachte er an die Wärme, die in dieser Familie herrschte und die er bislang lediglich als Zuschauer von außen wahrgenommen hatte. Er erkannte, dass er auf Pitt neidisch war, der diesem Kreis von Menschen angehörte.
Die Vorstellung,
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