Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
den Neuen an, der aufgesprungen war.
»Sonnenschein, Jakob«, stellte er sich erneut vor. »Sind Sie Kommissar Wechsler?«
»Ja. Und Sie sind der neue Kollege, den Herr Gennat mir angekündigt hat«, erwiderte Leo. »Robert, ich nehme an, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht.«
Walther nickte verwundert. Ernst Gennat, auch Buddha genannt, und Leo hatten sich schon immer gut verstanden, und der als Original bekannte Leiter des Morddezernats nahm den bisweilen unbequemen Kriminalkommissar stets in Schutz. Offenbar hatten die beiden miteinander besprochen, dass Leo den neuen Kollegen unter seine Fittiche nehmen sollte.
»Sie bekommen einen Schreibtisch im Büro nebenan, bei den Kollegen Walther und Berns. Besprechungen finden hier bei mir statt.«
Sonnenschein nickte und schaute die beiden erwartungsvoll an, worauf Leo ihn über den Fall Strauss in Kenntnis setzte.
»Die Tote ist in der Friedhofskapelle aufgebahrt und wird nun ins Leichenschauhaus gebracht. Nach der Sektion sehen wir weiter.«
Man sagt, Menschen besäßen nicht die Fähigkeit, sich
an Ereignisse aus ihrer frühen Kindheit zu erinnern, und doch haben sich mir Dinge eingeprägt, die zweifellos der Wirklichkeit entsprungen sind. Meine früheste Erinnerung an meine Tante Jette sind ihr lauter Freudenschrei und die wenig damenhafte Hast, mit der sie in den Salon meiner Eltern stürmte. Ich sehe noch einen zartbraunen Knöpfstiefel, ein weißes Blatt Papier, das sie wild schwenkte, dann fiel sie meiner Mutter um den Hals. Schrei, Gerenne, Stiefel, Blatt, Umarmung – erst später erfuhr ich, zu welchem Ganzen sich diese Eindrücke zusammenfügten.
An eben jenem Tag hatte Tante Jette die Zulassung
zum Studium an der Universität in Tübingen erhalten. Nach langen Jahren als Gasthörerin an der heimischen Friedrich-Wilhelms-Universität, in denen sie die üblichen Demütigungen durch Kommilitonen und Professoren ertragen hatte, war sie endlich eine ordentliche Studentin
mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ihre männlichen Mitstudenten. Gewiss, sie musste Preußen verlassen, doch war Tante Jette schon immer abenteuerlustig und reisefreudig gewesen und ließ sich von der Aussicht, ins Königreich Württemberg umzusiedeln, nicht schrecken. Mit großem Eifer packte sie ihre Bücher zusammen, wie Mutter mir berichtete, dazu nur die notwendigsten Kleidungsstücke, da sie als ernsthafte Studentin keiner Abendgarderobe und ähnlichem bedurfte, und stieg in den Zug nach Tübingen, bereit, die Welt zu erobern.
Adrian hatte begonnen, seine Erinnerungen an Tante Jette niederzuschreiben. Damit konnte er den ersten reißenden Schmerz ein wenig betäuben. Seine Tante hatte immer einen besonderen Platz in seinem Herzen eingenommen. Manchmal hatte er als Kind einen traurigen Blick seiner Mutter aufgefangen und diese umgehend getröstet, denn er wollte ihr nicht wehtun. Er liebte Tante Jette nicht mehr als sie, nur war die Tante seltener verfügbar und die Stunden mit ihr umso kostbarer.
Seufzend schob er das Tagebuch von sich. War es richtig gewesen, zur Polizei zu gehen? Auf einmal kam ihm die Entscheidung ungeheuerlich vor, ein Schritt, den er nicht zurücknehmen konnte. Die Reaktion seiner Mutter überraschte ihn nicht. Zuerst die Trauer, dann der Schock, als man Zweifel an den Todesumständen ihrer Schwester äußerte. Er hatte lange mit sich gerungen, bevor er seiner Mutter den Besuch auf dem Präsidium eingestanden hatte, wollte sie aber lieber vorbereiten, bevor die Polizei sie befragte.
Adrian hatte sich in den vergangenen Stunden mit den gleichen Fragen gequält, die Kommissar Wechsler so unerbittlich gestellt hatte. Wollte er Tante Jettes Tod nur nicht wahrhaben? Steigerte er sich in etwas hinein, maß er ihrenWorten eine Bedeutung bei, die sie nicht besaßen? Hatte sie im Fieber gesprochen? All das war denkbar, und doch blieb ein letzter Zweifel, ein Gefühl, dass in der Wohnung etwas nicht gestimmt hatte, ein tiefes Unbehagen, das nichts mit seiner Trauer zu tun hatte.
Er schloss das Tagebuch in der Schreibtischschublade ein und stand auf. Dann griff er zum Geigenkasten, nahm das kostbare Instrument heraus, das sich an seinen Hals schmiegte wie eine Geliebte, und begann, selbstvergessen über die Saiten zu streichen.
5
FREITAG, 26. OKTOBER 1923
Vor dem Besuch im Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße graute es Leo wie am ersten Tag. Von außen bot das von Bäumen umgebene Institut für Gerichtliche
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