Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
nahm er einen zarten Duft wahr, der wie ein schwacher Nebel in den Räumen hing. Er ging langsam durch den Flur, der mit Photographien und Erinnerungsstücken geschmückt war, viele davon asiatischer Herkunft. Seidenbilder mit zarter Malerei, Masken, Fächer und Bilder von schneebedeckten Gipfeln, die mit dem Himmel zu verschmelzen schienen. Möglicherweise der Himalaya, dachte er. Clara hatte erwähnt, dass die Ärztin Indien und China bereist hatte. Auf dem Boden lag ein bunter Flickenteppich.
Das Wohnzimmer war hell dank der großen Fenster, die auf den Sophie-Charlotte-Platz hinausgingen. Auch hier gab es Photographien und Gemälde, dazu hohe Regale, in denen sich Bücher, Buddhafiguren, Schalen für Räucherstäbchen und Drachenfiguren drängten. Er warf einen Blick auf die Buchrücken – viel Medizin und soziale Fragen, aber auch Reiseberichte und Kunst.
»Sonnenschein, wonach riecht es hier?«
Sein Kollege schnupperte. »Ich bin mir nicht sicher. Etwas Blumiges, vielleicht ein Parfum.«
»Hm. Bitte gehen Sie zu Frau Stranzke, und stellen Sie die üblichen Fragen. Dauer der Bekanntschaft, wer bei der Toten ein und aus ging …«
Sonnenschein nickte und machte sich auf den Weg.
Leo öffnete eine zweiflügelige, weißlackierte Tür und trat in das Schlafzimmer der Toten. Hier war das Aroma, das er vorhin gerochen hatte, noch stärker. Rosen, ja, das war es. Vielleicht ein Parfum, auf der Frisierkommode standen schön geschliffene Flakons mit hellen und bernsteinfarbenen Flüssigkeiten, manche mit Glasstöpseln, andere mit stoffüberzogenen Ballons zum Pumpen. Daneben eine Art Vase oder Flasche aus Messing, die mit fein ziselierten Mustern bedeckt war. Am oberen Ende waren kleine Öffnungen zu erkennen.
Das Schlafzimmer war ganz in Weiß gehalten und vergleichsweise schmucklos. In einer Ecke stand ein Säulenfragment, gekrönt von einem Buddhakopf. Einige japanische Tuschezeichnungen an den Wänden, sonst keine Bilder. Er warf einen Blick auf den Nachttisch und bemerkte die Photographie.
Ein Junge von etwa acht Jahren im Matrosenanzug, der eine Geige in der Hand hielt. Adrian Lehnhardt, kein Zweifel. Ansonsten keine Bilder der Familie. Lehnhardt hatte ja gesagt, dass er der Toten besonders tief verbunden gewesen war.
Das Bett war tadellos gemacht. Keine Spuren vom Todeskampf der Ärztin, keine schmutzige Wäsche, nichts, was auf den ersten Blick Hinweise hätte liefern können. Das war verständlich, da man zunächst an einen natürlichen Tod geglaubt hatte.
Sie würden noch einmal mit den Kollegen der Spurensicherung wiederkommen und alles genauestens überprüfen. Er hatte genug gesehen, um sich eine erste Meinung zu bilden. Leo verließ die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Vor Frau Stranzkes Tür zögerte er kurz und trat dann auf den Hof. Er würde Sonnenschein die Befragung allein durchführen lassen.
Clara blickte überrascht auf, als Leo um halb fünf die Leihbücherei betrat. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gezogen, weil draußen ein scharfer Wind wehte, der die letzten bunten Herbstblätter in einem wilden Tanz umherwirbelte. Sie schob den Bücherstapel, den ein Kunde zurückgebracht hatte, beiseite und kam hinter der Theke hervor. Leo küsste sie, dann zog er Hut und Mantel aus und warf beides auf die Bibliotheksleiter.
»Was machst du um diese Zeit hier?«
Er setzte sich auf einen Hocker und fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. »Ich benötige eine offizielle Aussage von dir.«
Clara sah ihn fragend an. »Was ist passiert?« Dann dämmerte es ihr. »Henriette Strauss?«
Er nickte. »Ich war heute bei der Leichenschau.«
»Darum bist du so blass.« Clara wusste, dass ihm diese Termine schwerfielen.
»Hab zu wenig gegessen.«
Sie ging wortlos ins Hinterzimmer und kam mit einem Apfel zurück, den sie ihm reichte.
»Lehnbach hat mögliche Anzeichen für eine Vergiftung gefunden«, fuhr Leo kauend fort. »Wir wissen noch nicht, um welche Substanz es sich handeln könnte, aber er vermutet, dass das Gift durch Einatmen aufgenommen wurde. Das schließt natürlich eine ganze Gruppe möglicher Substanzen aus.«
»Könnte es ein Versehen gewesen sein?«
»Denkbar. Aber die Frau war Ärztin, daher halte ich es für unwahrscheinlich. Jedenfalls müssen wir der Sache nachgehen. Ich möchte, dass du dich noch mal so genau wie möglich zu erinnern versuchst, worüber ihr auf Hiddensee gesprochen habt. Du hast gesagt, ihr hättet
Weitere Kostenlose Bücher