Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
ein Abwarten, ein Spiel auf Zeit, das sie nur verlieren konnte. Irgendwann würde Leo Clara einen Antrag machen, und sie würden mit den Kindern in eine neue Wohnung ziehen oder in dieser bleiben, wo für Ilse dann kein Platz mehr wäre.
So sehr sie sich manchmal gewünscht hatte, mehr Zeit für sich zu haben, musste sie sich eingestehen, dass sie Angst vor dem Alleinsein hatte. Erst war sie bei ihrer verwitweten Mutter geblieben, während Leo zur Polizei gegangen war und eine Familie gegründet hatte. Kurz nach dem Tod der Mutter war Leos Frau Dorothea gestorben, worauf Ilse nicht lange gezögert hatte und zu ihrem Bruder gezogen war, weil sie es als ihre Pflicht betrachtete. Seither war sie immer für ihn und die Kinder da gewesen.
Nur ein einziges Mal hatte sie daran gedacht, ihren eigenen Weg zu gehen, vor etwa einem Jahr, als sie Bruno Schneider kennengelernt hatte. Es war ungewohnt und schön gewesen, dass er sie wie eine Dame behandelt und ihr auf altmodische Weise den Hof gemacht hatte. Einige kurze, kostbare Tage lang hatte sie überlegt, ob Leo und die Kinder ohne sie auskommen könnten. Dann aber hatte sie von Schneiders dunklen Geschäften erfahren – nachdem er sich aus Berlin abgesetzt hatte, ohne sich von ihr zu verabschieden. Ein einziges Mal hatte Ilse ihr Herz geöffnet und eine tiefe Wunde davongetragen.
Erst jetzt merkte sie, dass ihre Hände reglos neben der halb geschälten Kartoffel auf dem Tisch ruhten.
Ich muss etwas tun, dachte sie. Ich muss hier weg, es Leo leichter machen und mir auch. Es wird Zeit.
4
DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1923
Frieda, das Hausmädchen, räumte den Frühstückstisch ab und blickte kopfschüttelnd auf die unberührte Kaffeetasse und den blitzsauberen Teller der gnädigen Frau. Nicht einmal ein Stück Brot hatte darauf gelegen, die Schale des gekochten Eis war unversehrt. Seit ihre Schwester gestorben war, aß Frau Lehnhardt fast nichts mehr. Der junge Herr war in Sorge um seine Mutter und ließ ihre Lieblingsspeisen zubereiten, vergeblich. Meist saß sie nur da, in der Hand ein zerknülltes Taschentuch, das sie ab und zu mechanisch an die Augen führte, und starrte ins Leere.
Frieda hatte Frau Dr. Strauss selten gesehen, da diese eine vielbeschäftigte Frau gewesen war. Wenn sie aber zu Besuch gekommen war, war es ein ganz besonderes Ereignis gewesen, und vor allem der junge Herr Lehnhardt hatte größten Wert darauf gelegt, es ihr so behaglich wie möglich zu machen. Einmal hatte er sogar ein indisches Gericht für sie kochen lassen, dessen Zutaten in einem Feinkostladen besorgt wurden und das zum Entsetzen der Köchin von einem braunhäutigen Mann mit Turban in ihrer Küche zubereitet wurde. Das Haus roch noch Tage später nach den üppigen Gewürzen, die der Koch in großzügigen Mengen verwendet hatte.
Frieda hörte, wie der junge Herr Lehnhardt von oben herunterkam und sich zu seiner Mutter in den Salon begab, der gleich neben dem Speisezimmer lag. Das Hausmädchen stellte das Geschirr auf ein Tablett, ohne auf die Geräusche im Nebenzimmer zu achten. Frieda war schon so langeDienstmädchen, dass sie meist gar nicht mehr hinhörte, wenn die Herrschaften sich unterhielten. Sie trug das Tablett in die Küche und kam zurück, um Kaffeekanne und Servietten abzuräumen.
Plötzlich erklang ein durchdringender Schrei aus dem Salon. Frieda ließ die Servietten fallen und eilte nach nebenan. Als sie eintrat, lag Frau Lehnhardt auf dem Sofa und presste die Hand auf den Mund. Der junge Herr stand daneben und schaute Frieda hilfesuchend an.
»Soll ich ein Glas Wasser bringen? Und etwas Baldrian?«
Er nickte dankbar.
Als Frieda den Raum verlassen wollte, hörte sie, wie die gnädige Frau heiser flüsterte: »Was hast du getan?«
»Sonnenschein, Jakob.« Der rundliche junge Mann im dunklen Anzug stand in der Tür und sah ein bisschen schüchtern aus. Robert Walther legte die Sportbeilage weg und winkte ihn herein. »Was kann ich für Sie tun, Herr Sonnenschein?«
Der Besucher schob sich eine kringelige schwarze Locke aus der Stirn. Er trug eine runde Brille mit Metallgestell. »Ich bin der neue Kriminalassistent und soll mich bei Herrn Kriminalkommissar Wechsler melden.«
Walther hatte ihn noch nie im Präsidium gesehen. »Ich bin Kriminalsekretär Walther. Setzen Sie sich doch. Der Chef müsste gleich kommen.«
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als Leo das Büro betrat und die Aktentasche schwungvoll auf den Schreibtisch warf. Dann schaute er
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