Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
stirnrunzelnd an. »Alles?«
Gretes Stimme sank zu einem eindringlichen Flüstern herab. »Ich meine die Sache mit Stratow.«
7
SONNTAG, 28. OKTOBER 1923
Leo hatte sich mit einem Stapel Bücher im Wohnzimmer vergraben, als Ilse den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Ich mache einen Spaziergang. Kannst du so lange nach den Kindern sehen?«
Er blickte hoch. »Ich arbeite.«
Ilse zog sich nicht wie erwartet zurück, sondern schaute ihn eindringlich an. »Leo, ich möchte am Sonntag auch mal ein bisschen für mich sein, nachdem ich gekocht, gebügelt und abgewaschen habe.«
Er klappte das Buch, in dem er gerade las, hörbar zu. »Ilse, ich bin an jedem Sonntag für die Kinder da, nur heute muss ich mich um etwas Berufliches kümmern, für das ich im Büro keine Ruhe finde.«
»Gut, die beiden sind groß genug, um sich allein zu beschäftigen«, erklärte Ilse. »Ich sage ihnen, dass sie in ihrem Zimmer spielen sollen.«
Mit diesen Worten zog sie die Tür zu, und kurz darauf hörte er, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.
Leo fuhr sich durch die Haare und seufzte. Er hatte alle Fachbücher, in denen etwas über Gifte stand, aus dem Regal geholt und die entsprechenden Kapitel herausgesucht, bislang aber keinerlei Hinweise auf eine Substanz gefunden, die Symptome wie im Fall Henriette Strauss hervorrief. Die bekannten Gifte – Arsen, Strychnin, Blausäure, Digitalis – wurden gewöhnlich oral verabreicht, was zu völlig anderen Symptomen führte. Die Befunde im Magen der Toten deutetenauf keines dieser Gifte hin, ganz zu schweigen von der Wasseransammlung in der Lunge, dem Fieber und dem Husten.
Nach wie vor hatten sie kaum etwas Greifbares vorzuweisen. Die ersten Befragungen im Krankenhaus hatten wenig ergeben – Dr. Strauss war beliebt und kollegial gewesen, wobei die Krankenschwestern sie mehr zu schätzen schienen als die Ärzte. Clara gegenüber hatte sie davon gesprochen, wie schwer die anderen Mediziner es ihr als Frau gemacht hatten. Ihre fachlichen Kenntnisse und ihre Zuverlässigkeit waren aber offenbar über jeden Zweifel erhaben. Alle Befragten schienen völlig überrascht, dass die Kriminalpolizei ermittelte.
Leo schob die Bücher beiseite und griff zu der Fallakte, um noch einmal das Protokoll von Walther und Berns zu lesen.
Dr. Stratow, der unmittelbare Vorgesetzte der Toten,
zeigt sich überrascht. Er bedauert den Verlust einer ausgezeichneten Ärztin und wirkt persönlich erschüttert (private Beziehung?). Erwähnt ihren Kampf gegen § 218, womit sie Schwierigkeiten herausgefordert habe. Bittet um Diskretion, lässt aber Befragung aller Mitarbeiter zu.
Hatte Dr. Strauss sich mit mächtigen Vertretern von Justiz und Medizin angelegt, die keine Lockerung des Abtreibungsparagraphen zulassen wollten? Leo verstand nicht viel von der Materie und machte sich eine Notiz. Der Fall war vielschichtig, auch ein solches Motiv nicht auszuschließen. Interessant war die folgende Bemerkung:
Eine Krankenschwester, Gertrud Pollack, wirkt bei ihrer
Aussage leicht gehemmt. Sie schaut sich um, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. Dann gibt sie zu Protokoll,
dass Dr. Strauss eine fachkundige und freundliche Vorgesetzte gewesen sei. Ihr seien keine ungewöhnlichen Vorkommnisse aufgefallen.
Leo beschloss, die Frau allein zu befragen – entweder in der Klinik oder zu Hause.
In diesem Augenblick flog die Tür auf, und Marie kam mit ihrem Steckenpferd herein. »Vati, sollen wir spielen gehen? Tante Ilse ist nicht da und …«
»Marie, ich arbeite.« Es klang schärfer als beabsichtigt. »Könnt ihr euch einmal allein beschäftigen?«
Seine Tochter blieb abrupt stehen und biss sich auf die Unterlippe. »Wie lange musst du denn arbeiten? Heute ist doch Sonntag.«
»Es kommt ab und zu mal vor, dass ich im Büro nicht alles schaffe. Lass mich jetzt bitte.«
Während Marie mit hängendem Kopf aus dem Zimmer trottete, das Steckenpferd am Zügel hinter sich her schleifend, musste er den Impuls unterdrücken, ihr nachzugehen.
Die Arbeit wollte ihm danach nicht mehr gelingen.
Als Clara eine halbe Stunde später kam, stand Leo am Wohnzimmerfenster und rauchte eine Zigarette. Sie wollte ihn küssen, bemerkte aber seinen Gesichtsausdruck und wich zurück.
»Was hast du denn?«, fragte sie und legte einige Bücher, die sie für die Kinder aus ihrer Leihbücherei mitgebracht hatte, auf die Anrichte.
»Ach, nichts.« Er drückte die Zigarette aus.
»Du
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