Die Tote von San Miguel
Überlandstromleitung in den Himmel ragte. Im silbernen Mondlicht gerann die Erscheinung zu einem alptraumhaften Geschöpf, der aztekischen Gottheit Ehécatl , wiederauferstanden aus dem blutigen Herz des alten Mexiko. Wiedergeboren mit all seiner Macht aus den Anfängen der Zeit! Den Vogelkopf in Federn von unaussprechlichen Farben gehüllt! Ein Anblick, der jeden Sterblichen mit unendlichem Entsetzen erfüllen musste!
Diaz’ Herz schlug im Rhythmus einer urtümlichen Trommel in seiner Brust. Die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen. Seine Finger wurden kalt wie Eiszapfen. Das Grauen breitete sich wie ein Schwarm elektrischer Ameisen kribbelnd unter seiner Haut aus.
Und dann begann sich die wiederauferstandene aztekische Gottheit zu bewegen, schob ihre in scharfen Klauen endenden Arme in das schwarze Herz des zerfallenen Gebäudes.
Aus den dunklen Tiefen der verlassenen estancia schrie der Schütze gellend auf. Dann sprang er durch das Rechteck der Fensteröffnung aus der Finsternis ins silbrige Halbdunkel wie durch ein futuristisches Zeitportal.
Diaz stemmte sich auf die Ellbogen hoch, richtete die Glock auf den Killer und drückte auf den Abzug. Doch die Pistole blieb stumm. Das Magazin war leer.
Der Indianer stürzte sich in einem irrsinnigen Tempo auf ihn, die Augen durch den Anblick von Ehécatl wie geblendet.Plötzlich hielt er ein Messer mit einer stumpf schimmernden Klinge in der Hand. Als das Messer auf ihn herabzuckte, rollte sich Diaz seitlich ab, bekam ein Fußgelenk des Angreifers zu fassen und brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
Er sprang wieder auf, hetzte ihm hinterher und brachte ihn zu Fall. Sie prügelten aufeinander ein und wanden sich ineinander verschlungen wie zwei Spinnen im tödlichen Zweikampf.
Als sie sich durch den Staub wälzten, berührte Diaz’ Hand einen alten eisernen Zaunpfosten und griff instinktiv zu. Der Indianer konnte sich aus Diaz’ Umklammerung befreien und winkelte ein Bein an, um ihm den Stiefelabsatz ins Gesicht zu rammen. Diaz packte den Zaunpfosten mit beiden Händen und riss ihn mit aller Kraft in die Höhe. Der Pfosten beschrieb einen Aufwärtsbogen, und als sein spatelförmiges Ende den höchsten Punkt seiner Bahn erreicht hatte, grub er sich so mühelos in den Schädelknochen des Indianers, als wäre er so weich wie eine Papaya. Die Schädeldecke des Killers spaltete sich, und der Indianer stürzte zu Boden, wo er noch zweimal kurz wie eine zerquetschte Spinne zuckte, bevor er reglos liegenblieb.
Diaz kämpfte sich hoch, den Blick wie hypnotisiert auf Ehécatl geheftet. Die mystische mexikanische Gottheit flackerte wie eine defekte Neonröhre und löste sich von einer Sekunde auf die andere in Nichts auf, verschwand genauso schnell und unerklärlich, wie sie kurz zuvor erschienen war.
Kosmische Stille senkte sich herab, nichts regte sich. Die ganze Welt schien die Luft anzuhalten, als wäre jeder Atemzug ein Sakrileg. Dann klang irgendwo in der Ferne dreimal der Ruf einer Eule auf. Oder war es die Stimme von Ehécatl ?
Diaz brach den Bann, indem er ein volles Ersatzmagazinaus seiner Jackentasche zog und es in den Kolben seiner Pistole rammte. Dann ließ er sich neben dem Indianer in die Hocke nieder und legte ihm die Finger auf die Halsschlagader. Nada . Blut und flüssige Hirnmasse sickerten aus dem furchtbaren Spalt, den der Eisenpfosten in den Schädel des Psychopathen geschlagen hatte. Die letzten Lebensfunken in seinen Augen erloschen. Er war endgültig tot.
Trotzdem verpasste ihm Diaz einen letzten Tritt mit der Stiefelspitze zwischen die Beine, nur um ganz sicherzugehen. Motherfucker!
Plötzlich erinnerte er sich wieder an Felicia und die restlichen Angreifer, die sich ihnen von der Straße her genähert hatten.
Genau aus der Richtung wehte jetzt das Winseln eines Anlassers herüber, und der Motor des Lastwagens erwachte dröhnend zum Leben. Die Erscheinung von Ehécatl , die ihnen allen zuteilgeworden war, schien die anderen Angreifer in heilloser Panik in die Flucht geschlagen zu haben. Vermutlich hatte sich jeder Einzelne von ihnen in die Hose geschissen.
Diaz fand Felicia neben dem Schotterweg im Staub liegend, den Kopf an den Stamm einer verkümmerten Eiche gelehnt. Er konnte die Schmerzen in ihren Augen erkennen.
»Es ist mein Arm«, flüsterte sie.
Er kniete sich neben sie und schnitt ihr mit seinem Taschenmesser den Ärmel der Jacke ab und die Bluse darunter auf. Felicia blutete stark, aber es war nicht das Pulsieren einer
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