Die Tote von San Miguel
verletzten Arterie. Als er ihr sein Taschentuch als Aderkompresse um den Arm schlang, konnte er die gesplitterten Knochen unter ihrer Haut fühlen.
»Was war das … dieses Ding im Himmel?«, fragte Felicia.
»Du meinst die Phantomerscheinung?«
»Ich schätze, man könnte es wohl eine Erscheinung nennen.«
»Wäre ich ein Mann, der gerne wettet, würde ich wahrscheinlich sagen, dass wir gerade gesehen haben, wie uns der aztekische Windgott Ehécatl zu Hilfe geeilt ist. Aber ich habe noch nie zu der Sorte von Männern gehört, die auf das Unwahrscheinliche setzen.«
»Und wohin führt uns diese Erkenntnis?«
»Nirgendwohin.«
Der Polizeiwagen war hoffnungslos ruiniert, das Funkgerät zertrümmert, die Scheinwerfer zersplittert und die Windschutzscheibe nicht mehr vorhanden. Das machte zwei zerstörte Fahrzeuge innerhalb einer Woche. Und wieder einmal ist das Budget einer ganzen Abteilung zum Teufel , dachte Diaz.
Hinter der zerfallenen estancia entdeckte er den alten, von Rost zerfressenen VW-Käfer des toten Indianers. Der Zündschlüssel steckte im Schloss. Auf der Rücksitzbank lagen ein Glasröhrchen mit Aufputschmitteln und eine gewissenhaft gepflegte Machete, deren Schneide so rasiermesserscharf wie die eines Samuraischwertes geschliffen war.
Diaz half Felicia auf den Beifahrersitz, wobei er eine Hand versehentlich in das weiche Fleisch ihrer Brüste unter dem Spitzen-BH drückte, aber sie reagierte nicht auf die Berührung. Der Motor des Käfers sprang gleich beim ersten Versuch an. Die Reifen waren völlig abgefahren und hatten praktisch kein Profil mehr. Diaz ließ die Kupplung kommen und fuhr so schnell, wie er es wagte, zurück nach San Miguel.
Nach fünfundvierzig Minuten auf der Notfallstation des Krankenhauses versicherte ihm der leitende Arzt, dass FeliciasVerletzung nicht lebensgefährlich war, und riet ihm dringend, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen.
Doch Diaz war nicht nach Schlaf zumute. Es war bereits lange nach Mitternacht, als er die Huren in der Nähe des Busbahnhofs aufsuchte. Eine dunkelhaarige dünne Frau, mit der er früher schon einmal geschlafen hatte und die seine sexuellen Vorlieben kannte, lockte ihn mit dem Versprechen, sich viel Zeit für einen Blowjob und einige andere ausgefallene Spielarten der Lust zu nehmen. Sie feilschten eine Weile um den Preis. Als sie sich schließlich geeinigt hatten, schlenderten sie wie alte Bekannte Arm in Arm gemächlich zu Diaz’ Apartment. Ihr Atem roch nach Cumin, scharfen habaneros und billigem Tequila.
Lange nachdem sie wieder gegangen war, schlief Diaz endlich ein. Doch dann träumte er von Ehécatl und erwachte schweißgebadet vor Angst.
Kapitel 29
Sein erster Weg am nächsten Morgen führte ihn in die Kirche La Parroquia mit ihren großen neogotischen Türmen, die wie riesige Stalagmiten über den jardín aufragten, um für seinen Großvater zu beten. Nachdem er die Fingerkuppen in das Weihwasserbecken getaucht und sich gewissenhaft bekreuzigt hatte, nahm er lautlos auf einer der hinteren Sitzbänke Platz. Schwarzgekleidete Frauen knieten betend unter den gewölbten Dachkuppeln. Ein einzelner Tourist schlenderte mit einem Fotoapparat vor der Brust ziellos umher und betrachtete die in der Kirche ausgestellten Reliquien. Diaz kniete sich nieder und faltete die Hände, wie man es ihn in seiner Kindheit gelehrt hatte.
Vater im Himmel , begann er. Beschütze die Seele meines Großvaters, der bei Dir im Himmel wohnt.
Übergangslos wandte er sich mit seinem weiteren Gebet direkt an seinen Großvater.
Großvater. Du hast mich so manche Dinge über das alte Mexiko und seine Götter gelehrt. Aber du hast mich nie davor gewarnt, dass sie eines Tages wieder zum Leben erwachen könnten. Oder war das, was ich gestern zu sehen geglaubt habe, lediglich eine Halluzination? Auch wenn Ehécatl oder sein Geist anscheinend nicht nur mir, sondern auch meiner Kollegin und meinen Feinden erschienen ist. Wird das Erlebnis dadurch realer? Ich gebe es offen zu, ich habe mir vor Angst fast in die Hose geschissen. Gib mir die Weisheit und die Gelassenheit, diese Erscheinung zu akzeptieren, ohne mich einzupissen.
Zum Abschluss richtete er sein Wort noch einmal an Gott.
Barmherziger Gott, bewahre Deinen unwürdigen Diener vor allem Bösen und der Furcht, die das Herz der Menschen vor Kälte erstarren lässt. Amen.
Nach dem Gebet fühlte er sich bedeutend besser, auch wenn er wegen des Schlafmangels und aus einigen anderen Gründen immer
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