Die Tote von San Miguel
er den weißen Umschlag, der vor derUhr lag. Er hob ihn auf. Die Vorderseite war unbeschriftet. Kein Absender, keine Adresse. Doch Diaz’ Fingerspitzen ertasteten sofort das eingeprägte Siegel vom Büro des Staatsanwalts auf der Verschlussklappe der Rückseite. Er schlitzte den Umschlag auf und entnahm ihm eine Karte mit Büttenrand, die das gleiche Siegel trug. Unter dem Siegel standen zwei Sätze in Staatsanwalt Ortegas vertrauter altmodischer Handschrift:
Dieser Fall hier ist nicht so, wie er erscheint.
Achten Sie auf Ihren Rücken.
Auf der Karte standen kein Datum und keine Unterschrift.
Diaz zerriss sie in kleine Fetzen, die er in seinem Aschenbecher verbrannte. Es dauerte eine Weile, bis sie Feuer fingen, weil die Pappe ziemlich dick war. Als die kleinen Flammen langsam in die Höhe leckten, kam ihm plötzlich der beunruhigende Gedanke, dass der aufsteigende Rauch die erst kürzlich installierte Sprinkleranlage auslösen könnte. Zum Glück passierte nichts.
Einen Moment lang fragte er sich, ob die Sprinkleranlage überhaupt funktionierte. Oder hatte möglicherweise ein korrupter Unternehmer lediglich Attrappen in ihrem Revier installiert? Ach, scheiß drauf! , dachte er.
Als sich der letzte Pappfetzen in schwarze Asche verwandelt hatte, sah Diaz auf seiner Rolex mit ihrem zuverlässigen automatischen Uhrwerk, dass er bis zur Ausstellungseröffnung in der Galería Rana noch fast eine halbe Stunde totschlagen musste. Also beschloss er, vorher doch noch etwas trinken zu gehen.
Kapitel 9
Jane Ryder betrachtete die vertrocknete Nagelhaut an ihrem linken Zeigefinger. Sie klemmte den Nagelreiniger in den Spalt zwischen Fingernagel und Haut und bewegte ihn mehrmals hin und her. Dann nahm sie eine rasiermesserscharfe Hautschere und schnitt den sichelförmigen Fetzen des toten Gewebes ab.
Nach jeder vollendeten Maniküre eines Fingers trank sie einen Schluck von einem großen dunklen mojito .
Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? , fragte sie sich.
Vor gerade einmal sechs Stunden hatte sie in einem in San Miguel angesagten Café gesessen, Weißwein getrunken und mit einem unverschämten, ihr völlig unbekannten Künstler geflirtet, der nach dreister Selbstüberschätzung und billigem Deodorant gestunken hatte. Ein bleicher Bursche mit hohlen Augen, die Wangen und das Grübchenkinn mit Bartstoppeln übersät, das lange Haar nur mit den Fingern gekämmt. Mit der Ausstrahlung des verarmten Nachkommens eines russischen Adligen, der 1917 von einem Exekutionskommando der Bolschewisten erschossen worden war.
Warum war sie nicht überrascht gewesen, als sie erfahren hatte, dass er nicht nur russischer Herkunft, sondern auch noch ein mittelloser Maler war?
Sie hätte Gregori Gregorowitsch gleich auf die Straße werfen lassen sollen, als er sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatte. Stattdessen hatte sie ihm ein Essen spendiert.
Sein weißes Leinenjackett sah verdächtig danach aus, als hätte er in ihm geschlafen. Er wirkte unterernährt und bedurftedringend einer Rasur, einer Dusche, eines Haarschnitts und einer Entlausung. Seine Augen verrieten, dass er letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Als er sagte, er wäre hungrig, wusste sie sofort, dass er nicht log. Er benötigte Hilfe, jemanden, der sich seiner annahm. Bevor er völlig abstürzte und in der Gosse landete.
Jane hatte schon immer ein Herz für streunende Katzen und verwaiste kleine Klapperschlangen gehabt. Und jetzt würde sie Gregori in nicht einmal zwei Stunden wiedersehen.
Einen Moment lang fragte sie sich, was wohl ihr Mann Niles während seiner Freizeit in Ottawa trieb, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, in der bürokratischen Hierarchie Werbung für sein neuestes mexikanisches Entwicklungsprojekt zu machen. Sie hatte es abgelehnt, ihn zu begleiten. Es gab nur ein oder zwei Leute in Ottawa, die sie gern besucht hätte, aber auch die nicht gerade im Februar, wenn einem bei jedem Schritt der Schnee unter den Stiefeln knirschte und der Rotz in der Nase gefror, sobald man vor die Tür trat. Außerdem machte es sowieso kaum einen Unterschied für sie, ob Niles zu Hause oder verreist war.
So hatte sie beschlossen, mit ihren Freunden Leo und Consuela übers Wochenende nach San Miguel zu fahren.
Und jetzt steckte sie bis zum Hals in der Klemme. Als Leo und Consuela das Café betreten hatten und Gregori Gregorowitsch aufgestanden war, um zu gehen, hatte seine Hand ganz leicht die ihre gestreift. Im selben Moment war sie unvermittelt von
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