Die Tote von San Miguel
gelegt. Er hatte Nachtdienst. Bis auf ihn war niemand mehr im Revier, als Diaz von seiner Darmakrobatik zurückkehrte. Quevedo nickte ihm zu, telefonierte aber mit gedämpfter Stimme weiter. Diaz fragte sich, ob der Sergeant ein dienstliches Gespräch führte oder einfach nur mit seiner Freundin plauderte.
Er stolperte etwas benommen in sein Büro und zog die Tür hinter sich zu. Als ihn die pechschwarze Finsternis umfing, fühlte er sich augenblicklich völlig desorientiert. Er tastete hektisch nach dem Lichtschalter, und die Deckenbeleuchtung flammte auf.
Diaz ließ sich in seinen Bürosessel fallen. Es war immer wieder beruhigend, wenn das Licht anging, nachdem man den Schalter gedrückt hatte, fand er. Angesichts der allgemeinen Entwicklung, die die Welt durchmachte, fragte er sich, wie lange man sich noch darauf verlassen durfte, dasssolche selbstverständlichen Annehmlichkeiten des modernen Lebens gewährleistet waren. Schon bald würden die Terroristen damit beginnen, reihenweise die Staudämme von Wasserkraftwerken und die Atomreaktoren in die Luft zu jagen. Und überall auf der Welt würden die Lichter ausgehen. Was für ein Desaster!
Seine Stirn war nass vor Schweiß. Die letzten Nachwirkungen der Bazillen, die seine Innereien befallen hatten. Er nahm ein frisches Baumwolltaschentuch von dem Stapel in der untersten Schreibtischschublade, zog den mit einer ätherischen Lavendellösung gefüllten Zerstäuber aus derselben Schublade und sprühte das Tuch damit ein. Dann drückte er sich das Taschentuch mit geschlossenen Augen auf die Stirn, lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann, langsam und rhythmisch tief ein- und auszuatmen.
Nach einer Weile öffnete er wieder die Augen, beugte sich vor und griff nach dem Telefon. Aus dem Hörer ertönte das Freizeichen. Ein weiteres Wunder. Er tippte die Nummer, die Felicia ihm gegeben hatte, in die Tastatur.
Nach dem achten Klingelton wollte er schon wieder auflegen, als der Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde und sich ein Amerikaner mit einer tiefen Stimme in einem ungehaltenen Tonfall meldete: »Hallo, wer ist da?«
»Ich würde gern mit Mr. Smallwood sprechen.«
»Wer will was von ihm?«, fragte die Stimme unwirsch.
»Hier ist Inspector Diaz von der Kriminalpolizei in San Miguel de Allende, Mexiko.«
»Mexiko? Polizei? Soll das ein Witz sein? Wer, zur Hölle, ist da?«
»Spreche ich mit Mr. Smallwood?«
»Natürlich bin ich Smallwood – Bass Smallwood. Wer, zur Hölle, dachten Sie denn, wäre sonst hier?«
Diaz stellte sich einen grobschlächtigen Mann mit einer breiten Brust, abgetragenen Cowboystiefeln und ausgefransten Bluejeans am anderen Ende der Leitung vor, der das Telefon wie ein zerbrechliches Spielzeug in seiner riesigen Pranke hielt. Bass Smallwood klang ganz und gar nicht wie ein von einer schweren Krankheit gezeichneter Mann.
Es gab sie nicht, die richtigen Worte, mit denen man ihm die furchtbare Nachricht schonend hätte überbringen können.
»Haben Sie eine Tochter namens Amanda?«
»Ja.« Übergangslos schwang nackte Angst in der Stimme mit. »Was ist mit ihr?«
»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Mr. Smallwood, dass Ihre Tochter verstorben ist.«
Stille senkte sich herab. Es war wie der Moment, unmittelbar bevor ein Piano aus heiterem Himmel herabstürzt, um einen unschuldigen Passanten zu zerquetschen.
»Das ist ein grausamer Scherz, den Sie sich da leisten, Sir!«, stieß Smallwood schließlich heiser hervor. »Damit werden Sie nicht davonkommen!«
»Ich bin von der Polizei in San Miguel de Allende, Mexiko. Ihre Tochter Amanda hat hier gewohnt. Sie ist letzte Nacht ermordet worden.«
Aus dem Telefon ertönte ein lautes Krachen, als wäre der Hörer am anderen Ende der Leitung zu Boden gefallen. Diaz hörte ein unterdrücktes Stöhnen. Er wartete, ohne an irgendetwas zu denken.
Schließlich drang ein kratzendes Geräusch aus dem Hörer, gefolgt von Smallwoods Stimme, diesmal leise und tonlos. »Sie sagten, Ihr Name ist Diaz?«
»Inspector Diaz von der Policía Judicial in San Miguel de Allende.«
»Und Sie sind sich wirklich ganz sicher, was die Tote betrifft … dass es Amanda ist?«
»Sie hatte einen texanischen Führerschein mit ihrem Foto bei sich. Es tut mir leid.«
»Ich werde den ersten Flug morgen früh nach Guanajuato nehmen.«
»Glauben Sie wirklich, dass Sie in der Lage sind, hierherzufliegen?«
»Natürlich kann ich fliegen. Es geht schließlich um meine Tochter.« Bass
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