Die Tote von San Miguel
hatte eine Frau aus Philadelphia in San Miguel ihren Ehemann erschossen. Er war regelmäßig geschäftlich unterwegs gewesen, und sie hatte behauptet, ihn bei seiner Rückkehr für einen Einbrecher gehalten zu haben. Wie sich schließlich herausstellte, waren bei der Geschichte eine Geliebte und eine größere Versicherungssumme im Spiel gewesen. Die Geliebte hatte es sowohl mit dem Geschäftsmann aus Philadelphia als auch mit seiner Frau getrieben.
Claro , dachte Diaz, vermutlich hatte das tote Mädchen dastypische Leben eines Bohemiens am Rande der Exilantengemeinde von San Miguel geführt. Wer außer einer New-Age-Hippiefrau würde schon bäuerliche indio -Kleidung tragen und sich weder die Beine noch die Achselhöhlen rasieren? Zweifellos hatte sie gehört, dass das Leben in San Miguel billig war und es dort jede Menge Wohnraum gab.
Er hielt es für äußerst wahrscheinlich, dass irgendjemand aus der gleichen in sich abgeschotteten Gemeinde das Mädchen stranguliert und verstümmelt hatte. Irgendeine virulente Mutation der gringo -Kultur. Er musste nur einen Zugang zu dieser Welt finden.
Doch der Beginn der Suche würde noch ein paar Stunden warten müssen.
Als Diaz den Jardín Principal überquerte, steckten die Bettler bereits ihre Territorien ab. Die Zeitungsverkäufer hockten halb schlafend auf der niedrigen Mauer auf der Seite der Plaza, die der Kathedrale zugewandt war, und warteten auf ihre ersten Kunden. Zwei uniformierte Beamte der Policía Preventiva hatten sich rechts und links des mit Seilen abgesperrten Bereichs postiert, wo das tote Mädchen gefunden worden war. Diaz marschierte die Plaza hinauf, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht in einen Hundehaufen zu treten. Vor einer unscheinbaren Holztür in einer alten Hausfassade blieb er stehen und drückte auf einen von mehreren Klingelknöpfen. Nichts geschah. Er klingelte weiter. Schließlich klang eine verschlafene Frauenstimme aus der Gegensprechanlage auf.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s. Hector.«
Ein langanhaltendes Schweigen löschte seine Worte aus.
»Bist du wieder eingeschlafen?«, fragte er. »Oder ist das deine Art, mir zu zeigen, wie viel ich dir bedeute?«
»Es ist noch zu früh. Und warum sollte ich dich überhaupt reinlassen? Du hattest es schon seit Wochen nicht mehr nötig, dich einmal bei mir blicken zu lassen. Vielleicht habe ich ja mittlerweile einen Freund, der über Nacht geblieben ist.«
»Es hat in letzter Zeit jede Menge Verbrechen gegeben. Ich war sehr beschäftigt.«
»Lügner.«
Doch Diaz hörte das Schaben eines Metallbolzens, der zurückgezogen wurde, und dann das Klicken des aufspringenden Schlosses. Die Tür schwang nach innen auf, und Diaz schlüpfte hindurch. Eine Frau, die einen Morgenmantel dichter um ihren Körper legte, zog sich vom Eingang zurück. Diaz und sie betraten einen kleinen Innenhof, ohne einander zu berühren.
Das über die Hofmauern fallende Sonnenlicht entriss das Gesicht der Frau dem Halbdunkel. Sie hatte ein stark konturiertes Kinn und ebensolche Wangenknochen, die ihr ein selbstbewusstes Aussehen verliehen. Die vollen Lippen des Mundes, der ein wenig zu schmollen schien, fügten ihrem Gesicht eine sinnliche Note hinzu. In ihren bernsteinfarbenen Augen schimmerte noch immer so etwas wie ein Rest von Unschuld, auch wenn sie diesen Eindruck durch einen unsteten Blick zu verhindern versuchte. Als Diaz ihr ins Gesicht sah, strich sie sich über das kurzgeschnittene schwarze Haar.
»Du siehst gut aus, Martina.«
»Das soll wohl ein Witz sein. Ich hatte letzten Mittwoch meinen 42. Geburtstag und bin gerade erst aufgewacht. Ist das etwa der neue warmherzige und sensible Hector Diaz? Aber offenbar nur, wenn es ihm gerade in den Kram passt oder er Lust auf eine Nummer hat.«
»Sei nicht so unnachsichtig mit mir. Ich habe eine lange Nacht hinter mir.«
Ihre Mundwinkel zuckten.
»In Ordnung. Komm rein! Zwei Tassen Kaffee machen auch nicht mehr Mühe als eine.«
Diaz folgte ihr eine steinerne Treppe hinauf und einen Flur entlang, der zu einem kleinen Apartment führte. Vor einem Kaffeetisch, der aus einer antiken Holztür gezimmert worden war, stand eine übertrieben weich gepolsterte Couch. Diaz zog die Anzugjacke aus und legte sie vorsichtig auf das Sofa. Die Krawatte faltete er ordentlich zusammen und verstaute sie in einer Jackentasche. Durch einen Balkon fiel Tageslicht in das Zimmer. Auf einem kleinen Tisch vor der Balkontür standen schmutzige Teller und mit Fingerabdrücken
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