Die Tote
Grappa aus dem Schrank, füllte zwei Schnapsgläser, schob ihrer Mutter das eine hin und kippte den Inhalt des anderen hinunter. Dann setzte sie sich ihrer Mutter gegenüber, stützte das Kinn in die Hände und wartete geduldig, bis die sich so weit beruhigt hatte, dass sie vernünftig reden konnte. Das dauerte zehn Minuten.
In der Zwischenzeit ging der Fernseher im Wohnzimmer wieder an. Aha, dachte Charlotte, Rüdiger hat genug geruht und ist wieder auferstanden von den Toten. Ihre Mutter sprang auf, riss ein Küchenpapier von der Rolle ab, schnäuzte sich und sah nach dem Kuchen.
»Der braucht noch«, schniefte sie und setzte sich wieder hin.
»Nun erzähl schon«, drängte Charlotte. Sie konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. »Wieso glaubst du, dass Papa fremdgeht? Weiß er überhaupt, dass du hier bist?«
Mutter Wiegand schüttelte den Kopf. »Nein, weiß er nicht, und soll er auch nicht wissen.« Sie drohte ihrer Tochter mit dem Zeigefinger. »Wehe, du sagst es ihm!«
Charlotte antwortete nicht.
»Also … dein Vater hat plötzlich wieder angefangen, Tennis zu spielen. Tennis! Das hat er seit … ach bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr gemacht!«
»Und? Ist das alles, was ihn verdächtig macht?«
»Nein. Er … ist so schweigsam geworden. Wir reden gar nicht mehr miteinander, und außerdem ist er andauernd unterwegs. Alles in allem … es ist alles wie damals, als … na du weißt schon.«
Ja, Charlotte wusste, worauf ihre Mutter anspielte. Auf den hoffentlich einzigen Fehltritt, den ihr Vater sich in dieser Beziehung jemals geleistet hatte. Monique. Schon der Name war eine Zumutung gewesen. Und die Frau sowieso. Kaum zwanzig und, na ja, so dumm, dass sie Solschenizyn für ein russisches Eintopfgericht hielt. So jedenfalls hatte Mutter Wiegand sie in einem Wutanfall beschrieben.
Das war lange her, Charlotte war damals zehn Jahre alt gewesen. Ihr Vater hatte Monique auf der Hochzeitsfeier einer Nachbarin kennengelernt und gleich darauf komplett den Verstand verloren, wie ihre Mutter es nannte.
Die »Affäre« hatte genau drei Wochen gedauert, dann hatte ihre Mutter die Koffer gepackt und war verschwunden. Charlotte und ihre Schwester Andrea waren daraufhin zur Polizei gegangen und hatten ihre Mutter als vermisst gemeldet. Das hatte diverse Nachforschungen verschiedener Behörden zur Folge gehabt, was den Papa dann tatsächlich das Fürchten lehrte. Nach einer Woche war Mutter wieder daheim gewesen und Vater zerknirscht genug, zu Kreuze zu kriechen. Charlotte wusste, dass ihre Mutter ihrem Mann verziehen hatte, aber alles vergessen? Nein, das konnte sie nicht.
»Mit anderen Worten«, fuhr ihre Mutter fort und spielte mit dem Papiertuch, »er ist ein Weiberheld. Ich hab’s ja immer gewusst.«
»Mama, jetzt übertreibst du aber«, wandte Charlotte ein und klopfte mit dem Glas auf den Tisch. Aber ihre Mutter hörte gar nicht zu. »… ich hab ja gedacht, er wird schon ruhiger werden, aber nichts da. Es wird immer schlimmer, je älter er wird. Er sollte sich schämen!«
Charlotte hörte, wie die Wohnungstür aufging. Jan kam heim.
Ihre Mutter schien ihren Kummer augenblicklich vergessen zu haben und sprang auf.
»Jan!«, rief sie und rannte ihrem Stiefenkel freudig entgegen. Der ließ erstaunt die Tür wieder zufallen und ließ die Umarmungen seiner Stiefoma stoisch über sich ergehen.
»Hey, Oma«, murmelte er, »riecht’s hier nach Kuchen?«
»Hach, herrje.« Mutter Wiegand rannte zurück in die Küche, wo sie den Kuchen aus der Röhre nahm. Charlotte ging ins Wohnzimmer, wo Bergheim offensichtlich mies gelaunt auf dem Sofa hockte und sich durch die Programme zappte. Sein kranker Fuß lag auf dem Couchtisch.
»Seit wann ist sie hier?«, fragte Charlotte.
»Seit ewig!«, hauchte er kraftlos.
»Wenn du keinen Kuchen zum Abendessen willst, sollten wir Essen gehen.«
Bergheim schälte sich aus dem Polster. »Okay, wohin?«
Charlotte sammelte ihre Familie ein und kutschierte sie zum »Alexander«, einer urigen Kneipe, nicht weit vom Schauspielhaus entfernt. Das war von der List aus nicht weit, und man konnte dort günstig eine Familie verköstigen. Den Kuchen würden sie dann zu Hause zum Nachtisch essen.
ZWEI
Charlotte hatte mit Bergheim die Nacht auf der Schlafcouch im Wohnzimmer verbracht und dementsprechend schlecht geschlafen. Um halb sechs war sie aufgewacht, hatte sich auf dem unbequemen Ding hin- und hergewälzt und war dann aufgestanden, bevor jemand anders das Badezimmer
Weitere Kostenlose Bücher