Die Toten der Villa Triste
worden war, was ROMEO helfen konnte, ob auch wirklich nichts falsch eingetragen war. JULIA hatten wir schon auf den Speicher gebracht. Schließlich gingen Rico und Papa nach oben, um sie einzuschalten. Manchmal brauchten wir eine Weile, um sie auszurichten, bevor sie ein Signal empfing. Ich hörte sie oben, hörte das Knarren der Dielen und die schweren Schritte auf der Speichertreppe, als die Geräusche plötzlich vom Grollen mehrerer Motoren und von quietschenden Bremsen übertönt wurden.
Wir waren immer noch im Esszimmer. Ich sah Issa an. Sie wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Ich sah es ihr an, bevor ich es selbst kapierte.
Draußen waren schwere Stiefel und Gebrüll zu hören. Ein Schuss wurde abgegeben. Issa rannte an den Tisch. Sie riss die Karten an sich, flitzte damit zum Fenster und warf sie hinaus, während die Männer hastig auf den Speicher oder zur Hintertür hinausliefen.
Dann platzten sie schreiend ins Haus.
Mama war unglaublich. Sie wollte von ihnen wissen, wie sie dazu kämen, in unser Haus einzubrechen. Aber damit hatte sie keinen Erfolg. Die Soldaten schubsten sie beiseite, ohne sie auch nur anzusehen. Inzwischen schrie Issa aus Leibeskräften, und ich schrie ebenfalls. Ich weiß nicht mehr, was ich rief – etwas Dummes, etwas von Privateigentum und Räubern. Es half alles nichts. Sie brauchten nur ein paar Sekunden, um die Speichertreppe zu entdecken.
Ich hatte alle Fenster entriegelt und eigens kontrolliert, dass alle Fensterläden aufgeklappt waren, und auch wenn das Speicherfenster nur eine Luke war, glaube ich, dass ein paar der Männer beinahe hinaus und aufs Dach gekommen wären. Aber »beinahe« zählt eben nicht.
Sie führten sie die Treppe herab und an uns vorbei. Papas Brille war verbogen und fiel zu Boden. Er sah mich und Mama an, die Issa an der Schulter festhielt. Enrico folgte ihm als Erster, dann die anderen. Carlo kam als Letzter. Bis zu diesem Augenblick hatte in Issas Augen etwas wie Hoffnung geleuchtet. Als sie Carlo durch das Esszimmer abführten, rief er ihren Namen und wurde dafür geprügelt.
Die anderen, die aus der Hintertür geflohen waren, saßen wie Ratten in der Gasse fest. Zuletzt nahmen sie uns mit, mich und Mama und Issa. Jetzt war es an uns, jene Geschichte zu durchleben, die wir in den vergangenen Monaten so oft gehört hatten.
Zwei Wachsoldaten begleiteten uns. Als ich in den Laster kletterte, nahm einer von ihnen meine Hand und half mir hinauf. Ich sah auf seine Finger mit den aufgeschürften Knöcheln und dann in sein Gesicht, weil ich plötzlich die verrückte Idee hatte, dass es Dieter war. Dass ich irgendwie mit ihm reden könnte, ihm erklären könnte, dass alles nur ein Irrtum sei, dass ich ihm etwas anbieten könnte, wofür er uns alle freilassen würde. Aber natürlich war es nicht Dieter. Dieser Junge war größer und dünner und ein Fremder. Und trotz seiner Waffe, trotz seiner Uniform entdeckte ich, als ich ihm in die Augen sah, darin genauso große Angst wie in meinen.
Wir wurden durch die Stadt gefahren. Die Männer waren nicht mit uns im Wagen, in unserem Laster saßen nur Mama, Issa und ich. Wir sprachen kein Wort. Wir klammerten uns an die rauen Holzplanken, pressten das Gesicht dagegen und sahen Menschen, die uns nachschauten oder wegsahen oder mit gesenktem Kopf weitereilten, den Rücken vor Angst gebeugt. Ein einziges Mal sah Issa mich an.
»Wo bringen sie uns hin?«, flüsterte ich. Ich kannte die Antwort, trotzdem hoffte ich, sie würde etwas anderes sagen. Zum Bahnhof. Ins Frauengefängnis nach San Verdiana. Aber das tat sie nicht. Stattdessen hauchte sie nur zwei Worte: »Villa Triste.«
In der ersten Nacht wurden Issa, Mama, Papa und ich gemeinsam in einem Raum im Obergeschoss eingesperrt. Die ganze Nacht hindurch hörten wir Geräusche, Schritte. Hin und wieder sah jemand nach uns, aber niemand erklärte uns, was mit uns geschehen würde. Man konnte beinahe meinen, wir wären ihnen gleichgültig, und ein paar Stunden lang hoffte ich, sie hätten uns einfach vergessen, sie würden einfach irgendwann die Tür öffnen und uns gehen lassen. Ich wusste, dass Mama das Gleiche dachte und Papa auch. Die Einzige, die das nicht glaubte, war Issa, darum bemühte ich mich, sie nicht anzusehen und nicht in ihrer Miene zu lesen. Auch wenn es nicht kalt war, kuschelten wir uns aneinander, als könnten wir uns auf diese Weise in Luft auflösen oder aber so innig verbinden, dass niemand uns je trennen konnte. Dann, am Morgen, holten
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