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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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sie Papa ab.
    Er war größer als die beiden Wachsoldaten, die ihn holen kamen. In seinem verknitterten Sommerjackett und immer noch mit Krawatte blieb er kurz stehen und drehte sich zu uns um. Ich blickte in sein schmales Gesicht, auf die graue Locke, die er sich nicht mehr aus der Stirn streichen konnte. Die blauen Augen hinter den Brillengläsern. Er lächelte uns an. Dann fiel die Tür wieder zu, und er war weg.
    Issa und Mama und ich wurden in eine Zelle im Keller gebracht. Sobald wir dort waren, verwandelte sich Issa. Sie war überzeugt, dass die anderen in unserer Nähe waren. Sie zog einen Schuh aus und klopfte immer wieder mit dem Absatz gegen die Wand. Und den ganzen Tag und fast die ganze Nacht über bis in den nächsten Tag hinein wurde das Klopfen erwidert. Dann blieb es still. Und das – diese grässliche Stille – war schlimmer als alles andere.
    Ich glaubte, Issa würde verrückt werden. Als das Klopfen ausblieb, wurde sie zum Tier, sie tigerte rastlos und knurrend auf und ab. Sie heulte, sie hämmerte gegen die Tür, sie verlangte zu wissen, was draußen geschah. Aber seit sie uns nach unten gebracht und eingesperrt hatten, schien sich niemand mehr für uns zu interessieren. Ein- oder zweimal kamen ein paar Männer in die Zelle, stellten ein paar Fragen – nach unbedeutenden Details, die wir nicht zu wissen vorgaben – und verschwanden dann wieder. Aber sie verrieten uns nichts, und ich glaube, was wir ihnen erzählten, interessierte sie eigentlich kaum. Sie waren bereits zu dem Schluss gekommen, dass wir nur dumme Weiber waren, die nicht zählten.
    Dann, am dritten Tag, holten sie Issa.
    Ich klammerte mich an ihr fest. Ich schrie sie an. Ich glaubte, sie würden meine Schwester umbringen.
    »Ich liebe dich, Isabella!«, rief ich ihr nach. Und noch nachdem man sie aus dem Raum geschleift hatte, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, selbst während sie den Flur entlanggezerrt wurde, hörte ich sie rufen.
    Danach saßen Mama und ich schweigend beisammen. Mama legte die Arme um mich. Hin und wieder strich sie mir die Haare aus der Stirn. Sie sah mir in die Augen, und ich spürte es wieder, dieses neue Band zwischen uns, das wir in diesem Grauen geknüpft haben – eine Liebe, die ohne alle Worte zwischen uns fließt.
    Issa kam vielleicht zwei oder drei Stunden später zurück. Die Tür ging auf, und sie trat ein – sie wurde nicht geschubst und stolperte nicht.
    Mama sprang auf, und ich auch. Wir schlossen sie in die Arme. Wir drückten sie. Wir fragten sie, ob ihr etwas wehtäte, ob alles in Ordnung sei – aber sobald ich ihren Körper an meinem spürte, begriff ich, dass nichts in Ordnung war. Stocksteif stand sie vor uns, mit durchgestrecktem Rücken und wie erstarrt, und sie wollte mir nicht in die Augen sehen. Ich schob meine Lippen an ihr Ohr. Ich flüsterte ihr zu, dass ich Krankenschwester sei, dass ich es verstehen würde, wenn sie ihr etwas – so etwas – angetan hätten. Dass ich ihr helfen könne. Mama fragte sie ebenfalls. Aber Issa sprach kein Wort. Sie schüttelte nur ihren Kopf und sprach, all unserem Flehen zum Trotz, kein Wort.
    Die ganze Nacht hindurch saß sie an Mamas Seite und hielt ihre Hand. Hin und wieder strich sie Mama übers Haar. Sie fuhr mit den Fingern über den Rücken ihres Handgelenks. Über ihre Wange. Ich sah ihr zu, und der Anblick machte mir Angst. Weil ich Donata Leones Hand auf die gleiche Weise gehalten hatte. Auch ich hatte ihr damals übers Haar gestrichen. Und geholfen hatte es nichts.
    Am nächsten Tag nahmen sie Mama mit.
    Die Stille, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, schien kein Ende nehmen zu wollen. Dann endlich sah Issa mich an. Sie weinte nicht, sie verzog keine Miene. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Es strahlte eine Leere aus, die ich nie darin gesehen hatte. Sie war am Leben. Sie atmete, und sie saß neben mir. Aber ihre Augen waren tot.
    »Was ist?« Die Frage brach in einem Atemstoß, in einem einzigen Gedanken aus mir heraus.
    Issa nickte.
    »Ich musste warten, bis Mama weg ist.« Sie flüsterte. Sie sah zur Tür und dann wieder mich an. Und dann begann sie zu erzählen.
    Sie hatten sie nicht vergewaltigt. Oder geschlagen. Oder auch nur verhört. Im Gegenteil, sie hatten überhaupt nicht mit ihr gesprochen. Sie erzählte, sie hätte nach Antworten verlangt, sie hätte geschrien und immer wieder wissen wollen, was sie mit ihr vorhätten. Was war passiert? Wo war Carlo? Und Papa? Und Rico? Was hatten sie mit ihnen

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