Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
wieder bin ich in Gedanken durchgegangen, was ich getan oder was ich versäumt habe. Ich weiß, irgendwo muss ich einen Fehler gemacht haben, aber ich kann ihn beim besten Willen nicht entdecken. Ständig gehe ich alles durch und sehe wieder alles vor mir. Die Fensterläden. Die unverschlossene Hintertür. Den umgekippten Geranientopf, die verstreute Erde. Unzählige Male bin ich im Kopf alles abgegangen, habe ich jeden Schritt bei jedem meiner Besuche überdacht. Ich war mir so sicher. Ich dachte, ich wäre so vorsichtig gewesen. Ich war sogar stolz auf mich. Aber ich war nicht vorsichtig genug, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Mit meiner Unvorsichtigkeit habe ich Papa und Rico und die anderen umgebracht. Meine Unvorsichtigkeit hat uns Mama genommen und Carlo das Leben gekostet und Issa das Herz gebrochen und uns hierhergebracht. In dieses gottverlassene menschliche Lagerhaus.

    Die Hände tief in den Taschen vergraben, überlegte Pallioti, dass er diese Straße bestimmt schon hundertmal abgegangen war. Vielleicht zweihundertmal. Oder dreihundertmal. Hier gab es ein Restaurant, in dem er manchmal aß. Eine Bar, in der er hin und wieder einen Grappa getrunken hatte.
    Das eine Ende der Via dei Renai mündete in die Piazza Demidoff, ein kleines, grün bepflanztes Rechteck, wo alte Männer mit traurigem Gesicht auf Bänken saßen und mit ihren Hunden sprachen. Eine Front von steinernen Palazzi blickte durch die Winterbäume auf den Fluss. Vor vier Jahrhunderten hatten hier die Großen und Edlen ihre Schlösser gebaut. Vor sechzig Jahren hatten hier Familien gewohnt. Jetzt hatten sich im Erdgeschoss diskrete, schicke Restaurants und angesagte Cocktailbars breitgemacht. In einem Haus, direkt gegenüber dem Park, befand sich ein Hotel.
    Es war erst knapp neun Uhr. Der Morgen war von Anfang an nicht besonders warm gewesen und schien immer kälter zu werden. Das obere Ende der Straße schien sich zu verengen, die Häuser standen dort immer dichter, bis sie einander mit dünkelhaften Gesichtern gegenüberstanden wie Tänzer bei einem Renaissanceball. Über Nacht hatte es gefroren. Dünner Raureif befleckte die Pflastersteine und färbte die Schatten weiß. Pallioti ging langsam. Er war beinahe am Ende des Bürgersteigs angelangt, als er sich unvermittelt umdrehte und entdeckte, was er gesucht hatte.
    Die in die Wand eingelassene Gedenktafel war nicht groß. Bestimmt war er unzählige Male daran vorbeigegangen, ohne dass er sie bemerkt hätte. Überall in der Stadt waren Plaketten in die Mauern eingelassen. Jeder wusste, dass sie da waren, aber niemand blieb je stehen, um sie zu lesen. Er dachte an die Maschinengewehrstellungen, die Caterina so sorgsam gezählt hatte, an die metallischen Schnauzen, die sie überall entdeckt hatte, nachdem sie erst gelernt hatte, worauf sie achten musste. In den Türmen. Im Dickicht der Boboligärten. Sie hatte gelernt, den Tod inmitten der Ranken und Blumen zu entdecken. So wie er lernen würde, die Plaketten an den Mauern zu entdecken.
    Er hob die Hand und fuhr mit dem Handschuh über die eingravierte Inschrift.
    12. Juni 1944
    Im Gedenken an die Betreiber von Radio JULIA,
    die von diesem Ort aus so tapfer gegen die nationalsozialistische und faschistische Unterdrückung und für Freiheit und Gerechtigkeit kämpften.
    Möge die Erinnerung an sie und ihren Mut ewig weiterleben.
    Neben der kleinen Steintafel war eine Eisenklammer angebracht, wie man sie an Urnengräbern finden kann. Sie war in diskretem Grau lackiert. In der Glasvase, die sie umklammerte, standen fünf weiße Rosen. An dem Strohband, das sie zusammenhielt, hing eine Kondolenzkarte. Pallioti drehte sie um und las den Aufdruck: »Gedenkt der Gefallenen.«

Vierter Teil

20. Kapitel
    »Ja, ja, Ispettore. Natürlich haben Sie recht. Wir bekennen uns schuldig im Sinne der Anklage.«
    Ein Lachen ertönte aus dem Hörer.
    »Das gehört zu den kleinen Verpflichtungen, die wir uns selbst auferlegt haben – für frische Blumen zu sorgen. An den Gedenkstätten. Natürlich ist das nur eine unbedeutende Kleinigkeit. Aber andererseits stellt man oft fest, dass die wichtigsten Dinge im Leben Kleinigkeiten sind, meinen Sie nicht auch? Und natürlich macht es die Stadt netter. Nichts ist schlimmer als vertrocknete, tote Blumen. Oder, Gott bewahre, Plastik.«
    »Certo« , murmelte Pallioti.
    Er hielt Signora Grandolos Karte in der Hand und wendete sie hin und her. Sie war so höflich wie immer, aber wahrscheinlich fragte sie sich

Weitere Kostenlose Bücher